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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Neuntes Buch.

Das gilt auch von den Staten, welchen eine sogenannte ewige Neutra-
lität
zugesichert ist. Verzicht auf das Recht des Kriegs wäre Selbstentmannung,
wäre Verzicht des States darauf, seine Rechte mit den Waffen zu schützen und zu
vertreten, d. h. im Grunde Verzicht auf die selbständige Existenz.

744.

Die thatsächliche Neutralität ist die Grundbedingung des Rechts der
Neutralität.

Ein Stat, welcher sich am Kriege betheiligt, ist nicht neutral, sondern er
wird selber Kriegspartei oder Bundesgenosse einer Kriegspartei oder Intervenient
im Krieg. Wenn er sich nicht neutral verhält, so kann er auch nicht die
Rechte eines Neutralen
ansprechen. Der Krieg selber hat zunächst eine that-
sächliche
Bedeutung. Wer Krieg führt, ist, weil er das thut, Kriegspartei und
wird von dem Gegner mit Recht als Feind betrachtet und behandelt.

745.

Es gibt eine nothwendige durch völkerrechtliche Acte und Verträge
garantirte sogenannte ewige Neutralität einzelner Staten und eine frei-
willige auf friedlichem Entschluß beruhende Neutralität der Staten.

Die Neutralität kann in dem Charakter eines States und in allgemeinen
Verhältnissen eine fortwirkende Begründung haben und dann als ewige Neutra-
lität
erscheinen. Von der Art sind in Europa:

a) die Neutralität der Schweiz. Seit den unglücklichen italienischen
Kriegen zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts hat die schweizerische Eidgenossen-
schaft sich der Politik einer bleibenden Neutralität zugewendet, welche nur vorüber-
gehend in den Revolutionskriegen 1798--1803 und dann wieder zur Zeit der Re-
stauration 1814 verletzt worden ist. Die Wiener Congreßacte Art. 84. 92.
und eine besondere Beurkundung der Mächte vom 20. Nov. 1815 erkennen
es an, daß die fortwährende Neutralität der Schweiz in den politischen Interessen
von ganz Europa begründet sei. Wenn man erwägt, daß die Schweiz mitten zwi-
schen großen nationalen Staten gelegen und selber aus Bruchtheilen der deutschen,
französischen und italienischen Nationalität zusammengefügt ist, daß sie allein eine
republikanische Verfassung mitten unter den großen Monarchien behauptet, daß sie
im Besitz der Gebirgspässe und Uebergänge ist aus einem großen Ländergebiet in
das andere, daß in ihr die großen Ströme und Thalöffnungen des Rheins, der
Donau (Inn), der Rhone und des Po (Tessin) ihren Ursprung nehmen, so begreift
man sowohl das schweizerische als das europäische Interesse, daß dieses Centralland
Europa's ein Friedensland und daher neutral bleibe. Vgl. Wheaton
Int. L. § 416--420.

b) Die immerwährende Neutralität des Königreichs Belgien, gemäß dem
Londoner Vertrag vom 15. Nov. 1831, wodurch ein Land, das während Jahr-

Neuntes Buch.

Das gilt auch von den Staten, welchen eine ſogenannte ewige Neutra-
lität
zugeſichert iſt. Verzicht auf das Recht des Kriegs wäre Selbſtentmannung,
wäre Verzicht des States darauf, ſeine Rechte mit den Waffen zu ſchützen und zu
vertreten, d. h. im Grunde Verzicht auf die ſelbſtändige Exiſtenz.

744.

Die thatſächliche Neutralität iſt die Grundbedingung des Rechts der
Neutralität.

Ein Stat, welcher ſich am Kriege betheiligt, iſt nicht neutral, ſondern er
wird ſelber Kriegspartei oder Bundesgenoſſe einer Kriegspartei oder Intervenient
im Krieg. Wenn er ſich nicht neutral verhält, ſo kann er auch nicht die
Rechte eines Neutralen
anſprechen. Der Krieg ſelber hat zunächſt eine that-
ſächliche
Bedeutung. Wer Krieg führt, iſt, weil er das thut, Kriegspartei und
wird von dem Gegner mit Recht als Feind betrachtet und behandelt.

745.

Es gibt eine nothwendige durch völkerrechtliche Acte und Verträge
garantirte ſogenannte ewige Neutralität einzelner Staten und eine frei-
willige auf friedlichem Entſchluß beruhende Neutralität der Staten.

Die Neutralität kann in dem Charakter eines States und in allgemeinen
Verhältniſſen eine fortwirkende Begründung haben und dann als ewige Neutra-
lität
erſcheinen. Von der Art ſind in Europa:

a) die Neutralität der Schweiz. Seit den unglücklichen italieniſchen
Kriegen zu Anfang des ſechzehnten Jahrhunderts hat die ſchweizeriſche Eidgenoſſen-
ſchaft ſich der Politik einer bleibenden Neutralität zugewendet, welche nur vorüber-
gehend in den Revolutionskriegen 1798—1803 und dann wieder zur Zeit der Re-
ſtauration 1814 verletzt worden iſt. Die Wiener Congreßacte Art. 84. 92.
und eine beſondere Beurkundung der Mächte vom 20. Nov. 1815 erkennen
es an, daß die fortwährende Neutralität der Schweiz in den politiſchen Intereſſen
von ganz Europa begründet ſei. Wenn man erwägt, daß die Schweiz mitten zwi-
ſchen großen nationalen Staten gelegen und ſelber aus Bruchtheilen der deutſchen,
franzöſiſchen und italieniſchen Nationalität zuſammengefügt iſt, daß ſie allein eine
republikaniſche Verfaſſung mitten unter den großen Monarchien behauptet, daß ſie
im Beſitz der Gebirgspäſſe und Uebergänge iſt aus einem großen Ländergebiet in
das andere, daß in ihr die großen Ströme und Thalöffnungen des Rheins, der
Donau (Inn), der Rhone und des Po (Teſſin) ihren Urſprung nehmen, ſo begreift
man ſowohl das ſchweizeriſche als das europäiſche Intereſſe, daß dieſes Centralland
Europa’s ein Friedensland und daher neutral bleibe. Vgl. Wheaton
Int. L. § 416—420.

b) Die immerwährende Neutralität des Königreichs Belgien, gemäß dem
Londoner Vertrag vom 15. Nov. 1831, wodurch ein Land, das während Jahr-

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[404/0426] Neuntes Buch. Das gilt auch von den Staten, welchen eine ſogenannte ewige Neutra- lität zugeſichert iſt. Verzicht auf das Recht des Kriegs wäre Selbſtentmannung, wäre Verzicht des States darauf, ſeine Rechte mit den Waffen zu ſchützen und zu vertreten, d. h. im Grunde Verzicht auf die ſelbſtändige Exiſtenz. 744. Die thatſächliche Neutralität iſt die Grundbedingung des Rechts der Neutralität. Ein Stat, welcher ſich am Kriege betheiligt, iſt nicht neutral, ſondern er wird ſelber Kriegspartei oder Bundesgenoſſe einer Kriegspartei oder Intervenient im Krieg. Wenn er ſich nicht neutral verhält, ſo kann er auch nicht die Rechte eines Neutralen anſprechen. Der Krieg ſelber hat zunächſt eine that- ſächliche Bedeutung. Wer Krieg führt, iſt, weil er das thut, Kriegspartei und wird von dem Gegner mit Recht als Feind betrachtet und behandelt. 745. Es gibt eine nothwendige durch völkerrechtliche Acte und Verträge garantirte ſogenannte ewige Neutralität einzelner Staten und eine frei- willige auf friedlichem Entſchluß beruhende Neutralität der Staten. Die Neutralität kann in dem Charakter eines States und in allgemeinen Verhältniſſen eine fortwirkende Begründung haben und dann als ewige Neutra- lität erſcheinen. Von der Art ſind in Europa: a) die Neutralität der Schweiz. Seit den unglücklichen italieniſchen Kriegen zu Anfang des ſechzehnten Jahrhunderts hat die ſchweizeriſche Eidgenoſſen- ſchaft ſich der Politik einer bleibenden Neutralität zugewendet, welche nur vorüber- gehend in den Revolutionskriegen 1798—1803 und dann wieder zur Zeit der Re- ſtauration 1814 verletzt worden iſt. Die Wiener Congreßacte Art. 84. 92. und eine beſondere Beurkundung der Mächte vom 20. Nov. 1815 erkennen es an, daß die fortwährende Neutralität der Schweiz in den politiſchen Intereſſen von ganz Europa begründet ſei. Wenn man erwägt, daß die Schweiz mitten zwi- ſchen großen nationalen Staten gelegen und ſelber aus Bruchtheilen der deutſchen, franzöſiſchen und italieniſchen Nationalität zuſammengefügt iſt, daß ſie allein eine republikaniſche Verfaſſung mitten unter den großen Monarchien behauptet, daß ſie im Beſitz der Gebirgspäſſe und Uebergänge iſt aus einem großen Ländergebiet in das andere, daß in ihr die großen Ströme und Thalöffnungen des Rheins, der Donau (Inn), der Rhone und des Po (Teſſin) ihren Urſprung nehmen, ſo begreift man ſowohl das ſchweizeriſche als das europäiſche Intereſſe, daß dieſes Centralland Europa’s ein Friedensland und daher neutral bleibe. Vgl. Wheaton Int. L. § 416—420. b) Die immerwährende Neutralität des Königreichs Belgien, gemäß dem Londoner Vertrag vom 15. Nov. 1831, wodurch ein Land, das während Jahr-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/426>, abgerufen am 25.04.2024.