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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Neuntes Buch.
in die Classe der Rechtsbrüche und Friedensstörungen überhaupt. Vgl.
darüber § 464 f. Oft genügt, um die Verletzung gut zu machen, die bloße
Zusicherung des neutralen Stats, in Zukunft die Neutralitätspflicht vollstän-
diger zu erfüllen; in andern ist die bloße Beseitigung des Unrechts aus-
reichend. Nur in den schwersten Fällen wird darin eine Kriegsursache gegen
den neutralen Stat zu erkennen sein.

782.

Auch wenn der neutrale Stat zwar Willens ist, seine Neutralität
zu bewahren und sich selber aller neutralitätswidrigen Handlungen enthält,
aber offenbar die Macht nicht hat, den fortgesetzten Angriffen einer über-
legenen Kriegspartei gegenüber seine Neutralität dauernd zu behaupten
oder wieder herzustellen, so ist auch die andere Kriegspartei nicht mehr ver-
flichtet, die Neutralität seines Gebiets in ihrer Kriegsführung zu beachten,
sondern berechtigt, ohne Rücksicht darauf diejenigen Maßregeln zu ergreifen,
welche zur Kriegsführung nöthig sind.

Die neutrale Gesinnung reicht nicht aus zur Neutralität. Diese muß
vielmehr thatsächlich bestehn. Wenn daher eine Kriegspartei den Durchmarsch
durch das neutrale Gebiet erzwingt, ohne sich um dessen Neutralität zu kümmern,
oder sich eines neutralen Platzes oder Hafens zu ihren Kriegsoperationen bemächtigt,
so ist das einerseits eine Verletzung der Rechte des Neutralen, aber andrer-
seits auch, wenn der Neutrale zu schwach ist, um Widerstand zu leisten oder die
Verletzung wieder aufzuheben, für die andere Kriegspartei eine Veranlassung, das
bisher neutrale Gebiet als nicht mehr neutral, sondern dem Feinde dienst-
bar
zu betrachten und demgemäß innerhalb dieses Gebiets dem Feinde eben-
falls mit Gewalt entgegenzutreten
.


3. Rechte der Neutrasen.
783.

Für den neutralen Stat dauert das Friedensrecht fort, auch im
Verhältniß zu den kriegführenden Staten.

Neuntes Buch.
in die Claſſe der Rechtsbrüche und Friedensſtörungen überhaupt. Vgl.
darüber § 464 f. Oft genügt, um die Verletzung gut zu machen, die bloße
Zuſicherung des neutralen Stats, in Zukunft die Neutralitätspflicht vollſtän-
diger zu erfüllen; in andern iſt die bloße Beſeitigung des Unrechts aus-
reichend. Nur in den ſchwerſten Fällen wird darin eine Kriegsurſache gegen
den neutralen Stat zu erkennen ſein.

782.

Auch wenn der neutrale Stat zwar Willens iſt, ſeine Neutralität
zu bewahren und ſich ſelber aller neutralitätswidrigen Handlungen enthält,
aber offenbar die Macht nicht hat, den fortgeſetzten Angriffen einer über-
legenen Kriegspartei gegenüber ſeine Neutralität dauernd zu behaupten
oder wieder herzuſtellen, ſo iſt auch die andere Kriegspartei nicht mehr ver-
flichtet, die Neutralität ſeines Gebiets in ihrer Kriegsführung zu beachten,
ſondern berechtigt, ohne Rückſicht darauf diejenigen Maßregeln zu ergreifen,
welche zur Kriegsführung nöthig ſind.

Die neutrale Geſinnung reicht nicht aus zur Neutralität. Dieſe muß
vielmehr thatſächlich beſtehn. Wenn daher eine Kriegspartei den Durchmarſch
durch das neutrale Gebiet erzwingt, ohne ſich um deſſen Neutralität zu kümmern,
oder ſich eines neutralen Platzes oder Hafens zu ihren Kriegsoperationen bemächtigt,
ſo iſt das einerſeits eine Verletzung der Rechte des Neutralen, aber andrer-
ſeits auch, wenn der Neutrale zu ſchwach iſt, um Widerſtand zu leiſten oder die
Verletzung wieder aufzuheben, für die andere Kriegspartei eine Veranlaſſung, das
bisher neutrale Gebiet als nicht mehr neutral, ſondern dem Feinde dienſt-
bar
zu betrachten und demgemäß innerhalb dieſes Gebiets dem Feinde eben-
falls mit Gewalt entgegenzutreten
.


3. Rechte der Neutraſen.
783.

Für den neutralen Stat dauert das Friedensrecht fort, auch im
Verhältniß zu den kriegführenden Staten.

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[422/0444] Neuntes Buch. in die Claſſe der Rechtsbrüche und Friedensſtörungen überhaupt. Vgl. darüber § 464 f. Oft genügt, um die Verletzung gut zu machen, die bloße Zuſicherung des neutralen Stats, in Zukunft die Neutralitätspflicht vollſtän- diger zu erfüllen; in andern iſt die bloße Beſeitigung des Unrechts aus- reichend. Nur in den ſchwerſten Fällen wird darin eine Kriegsurſache gegen den neutralen Stat zu erkennen ſein. 782. Auch wenn der neutrale Stat zwar Willens iſt, ſeine Neutralität zu bewahren und ſich ſelber aller neutralitätswidrigen Handlungen enthält, aber offenbar die Macht nicht hat, den fortgeſetzten Angriffen einer über- legenen Kriegspartei gegenüber ſeine Neutralität dauernd zu behaupten oder wieder herzuſtellen, ſo iſt auch die andere Kriegspartei nicht mehr ver- flichtet, die Neutralität ſeines Gebiets in ihrer Kriegsführung zu beachten, ſondern berechtigt, ohne Rückſicht darauf diejenigen Maßregeln zu ergreifen, welche zur Kriegsführung nöthig ſind. Die neutrale Geſinnung reicht nicht aus zur Neutralität. Dieſe muß vielmehr thatſächlich beſtehn. Wenn daher eine Kriegspartei den Durchmarſch durch das neutrale Gebiet erzwingt, ohne ſich um deſſen Neutralität zu kümmern, oder ſich eines neutralen Platzes oder Hafens zu ihren Kriegsoperationen bemächtigt, ſo iſt das einerſeits eine Verletzung der Rechte des Neutralen, aber andrer- ſeits auch, wenn der Neutrale zu ſchwach iſt, um Widerſtand zu leiſten oder die Verletzung wieder aufzuheben, für die andere Kriegspartei eine Veranlaſſung, das bisher neutrale Gebiet als nicht mehr neutral, ſondern dem Feinde dienſt- bar zu betrachten und demgemäß innerhalb dieſes Gebiets dem Feinde eben- falls mit Gewalt entgegenzutreten. 3. Rechte der Neutraſen. 783. Für den neutralen Stat dauert das Friedensrecht fort, auch im Verhältniß zu den kriegführenden Staten.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/444>, abgerufen am 19.04.2024.