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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Neuntes Buch.
823.

Der Stat, dessen Kriegsschiffe die Durchsuchung vornehmen, ist dem
neutralen State dafür verantwortlich, daß bei der Prüfung und Durch-
suchung nicht mit ungebührlicher Gewalt und Härte verfahren werde.

Darin liegt das nöthige Correctiv gegen den Mißbrauch jenes Nothrechts.
Indem der Kriegsstat auf offener See das neutrale Schiff anhält, greift er immer-
hin ein in die Freiheit und Selbständigkeit auch des neutralen Statsgebiets, zu
welchem der auf der See schwimmende Gebietstheil gehört. Damit ist die Ver-
antwortlichkeit
desselben gegenüber dem neutralen State begründet,
der sich diesen Eingriff nur mit Rücksicht auf das Nothrecht des Kriegs, nicht darüber
hinaus gefallen läßt. Die prüfende und durchsuchende Mannschaft des Kriegsschiffs
muß sich erinnern, daß sie, genau genommen, auf fremdem, neutralem Gebiete und
gegenüber von Personen ihre Controle übt, welche an sich ihrer Statsherrschaft nicht
unterworfen und als Freunde keinen feindseligen Maßregeln ausgesetzt sind. Sie
hat daher auch die Rücksichten der Freundlichkeit (com ity) zu beobachten,
welche Staten, die im Frieden leben, einander schulden, und darf weder herrisch
noch gewaltthätig verfahren, so lange keine Verschuldung des neutralen Schiffs offen-
bar ist.

824.

Wenn der neutrale Stat durch Statsschiffe die neutralen Handels-
schiffe begleiten läßt, und dem Kriegsstate die Versicherung gibt, daß die
begleiteten Schiffe keine Contrebande enthalten, so darf keine weitere
Durchsuchung vorgenommen werden, sondern es hat sich das feindliche
Kriegsschiff zu begnügen, die Vollmacht des neutralen Geleitschiffs und
durch dessen Vermittlung die erforderlichen Aufschlüsse über die geleiteten
Schiffe zu empfangen.

Wenn der neutrale Stat selber die Aufsicht und Controle über die neu-
tralen Schiffe besorgt und durch Mitsendung eines Statsschiffs als Geleit-
schiffs
die Garantie dafür übernimmt, so hat er ein Recht darauf, daß nicht der
Kriegsstat die Freiheit seiner Flagge und die Achtung seiner Selbständigkeit durch
eine Untersuchung verletze, die nur aus Noth und nur um des Verdachtes der
Kriegshülfe willen von dem Völkerrecht gestattet wird. Zwar ist jenes Recht zu-
weilen, besonders von England, bestritten worden. Aber es hat doch guten Grund
in dem friedlichen Verhältniß der neutralen zu den Kriegsstaten. Jene dürfen von
diesen fordern, daß sie ihrem statlich bekräftigten Worte vertrauen. Die bewaffnete
nordische Neutralität von 1800 (womit zu vergleichen ist der Vertrag zwischen

Neuntes Buch.
823.

Der Stat, deſſen Kriegsſchiffe die Durchſuchung vornehmen, iſt dem
neutralen State dafür verantwortlich, daß bei der Prüfung und Durch-
ſuchung nicht mit ungebührlicher Gewalt und Härte verfahren werde.

Darin liegt das nöthige Correctiv gegen den Mißbrauch jenes Nothrechts.
Indem der Kriegsſtat auf offener See das neutrale Schiff anhält, greift er immer-
hin ein in die Freiheit und Selbſtändigkeit auch des neutralen Statsgebiets, zu
welchem der auf der See ſchwimmende Gebietstheil gehört. Damit iſt die Ver-
antwortlichkeit
desſelben gegenüber dem neutralen State begründet,
der ſich dieſen Eingriff nur mit Rückſicht auf das Nothrecht des Kriegs, nicht darüber
hinaus gefallen läßt. Die prüfende und durchſuchende Mannſchaft des Kriegsſchiffs
muß ſich erinnern, daß ſie, genau genommen, auf fremdem, neutralem Gebiete und
gegenüber von Perſonen ihre Controle übt, welche an ſich ihrer Statsherrſchaft nicht
unterworfen und als Freunde keinen feindſeligen Maßregeln ausgeſetzt ſind. Sie
hat daher auch die Rückſichten der Freundlichkeit (com ity) zu beobachten,
welche Staten, die im Frieden leben, einander ſchulden, und darf weder herriſch
noch gewaltthätig verfahren, ſo lange keine Verſchuldung des neutralen Schiffs offen-
bar iſt.

824.

Wenn der neutrale Stat durch Statsſchiffe die neutralen Handels-
ſchiffe begleiten läßt, und dem Kriegsſtate die Verſicherung gibt, daß die
begleiteten Schiffe keine Contrebande enthalten, ſo darf keine weitere
Durchſuchung vorgenommen werden, ſondern es hat ſich das feindliche
Kriegsſchiff zu begnügen, die Vollmacht des neutralen Geleitſchiffs und
durch deſſen Vermittlung die erforderlichen Aufſchlüſſe über die geleiteten
Schiffe zu empfangen.

Wenn der neutrale Stat ſelber die Aufſicht und Controle über die neu-
tralen Schiffe beſorgt und durch Mitſendung eines Statsſchiffs als Geleit-
ſchiffs
die Garantie dafür übernimmt, ſo hat er ein Recht darauf, daß nicht der
Kriegsſtat die Freiheit ſeiner Flagge und die Achtung ſeiner Selbſtändigkeit durch
eine Unterſuchung verletze, die nur aus Noth und nur um des Verdachtes der
Kriegshülfe willen von dem Völkerrecht geſtattet wird. Zwar iſt jenes Recht zu-
weilen, beſonders von England, beſtritten worden. Aber es hat doch guten Grund
in dem friedlichen Verhältniß der neutralen zu den Kriegsſtaten. Jene dürfen von
dieſen fordern, daß ſie ihrem ſtatlich bekräftigten Worte vertrauen. Die bewaffnete
nordiſche Neutralität von 1800 (womit zu vergleichen iſt der Vertrag zwiſchen

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[444/0466] Neuntes Buch. 823. Der Stat, deſſen Kriegsſchiffe die Durchſuchung vornehmen, iſt dem neutralen State dafür verantwortlich, daß bei der Prüfung und Durch- ſuchung nicht mit ungebührlicher Gewalt und Härte verfahren werde. Darin liegt das nöthige Correctiv gegen den Mißbrauch jenes Nothrechts. Indem der Kriegsſtat auf offener See das neutrale Schiff anhält, greift er immer- hin ein in die Freiheit und Selbſtändigkeit auch des neutralen Statsgebiets, zu welchem der auf der See ſchwimmende Gebietstheil gehört. Damit iſt die Ver- antwortlichkeit desſelben gegenüber dem neutralen State begründet, der ſich dieſen Eingriff nur mit Rückſicht auf das Nothrecht des Kriegs, nicht darüber hinaus gefallen läßt. Die prüfende und durchſuchende Mannſchaft des Kriegsſchiffs muß ſich erinnern, daß ſie, genau genommen, auf fremdem, neutralem Gebiete und gegenüber von Perſonen ihre Controle übt, welche an ſich ihrer Statsherrſchaft nicht unterworfen und als Freunde keinen feindſeligen Maßregeln ausgeſetzt ſind. Sie hat daher auch die Rückſichten der Freundlichkeit (com ity) zu beobachten, welche Staten, die im Frieden leben, einander ſchulden, und darf weder herriſch noch gewaltthätig verfahren, ſo lange keine Verſchuldung des neutralen Schiffs offen- bar iſt. 824. Wenn der neutrale Stat durch Statsſchiffe die neutralen Handels- ſchiffe begleiten läßt, und dem Kriegsſtate die Verſicherung gibt, daß die begleiteten Schiffe keine Contrebande enthalten, ſo darf keine weitere Durchſuchung vorgenommen werden, ſondern es hat ſich das feindliche Kriegsſchiff zu begnügen, die Vollmacht des neutralen Geleitſchiffs und durch deſſen Vermittlung die erforderlichen Aufſchlüſſe über die geleiteten Schiffe zu empfangen. Wenn der neutrale Stat ſelber die Aufſicht und Controle über die neu- tralen Schiffe beſorgt und durch Mitſendung eines Statsſchiffs als Geleit- ſchiffs die Garantie dafür übernimmt, ſo hat er ein Recht darauf, daß nicht der Kriegsſtat die Freiheit ſeiner Flagge und die Achtung ſeiner Selbſtändigkeit durch eine Unterſuchung verletze, die nur aus Noth und nur um des Verdachtes der Kriegshülfe willen von dem Völkerrecht geſtattet wird. Zwar iſt jenes Recht zu- weilen, beſonders von England, beſtritten worden. Aber es hat doch guten Grund in dem friedlichen Verhältniß der neutralen zu den Kriegsſtaten. Jene dürfen von dieſen fordern, daß ſie ihrem ſtatlich bekräftigten Worte vertrauen. Die bewaffnete nordiſche Neutralität von 1800 (womit zu vergleichen iſt der Vertrag zwiſchen

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/466>, abgerufen am 16.04.2024.