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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Einleitung.
Spanien Theil hatten und gehört heute ganz den Vereinigten Staten zu.
Hat er in Folge dessen seine Natur verändert und ist seine Bedeutung für
den Weltverkehr geringer geworden? Jene Unterscheidung zwischen der freien
Schiffahrt auf mehrstatlichen Weltströmen und der unfreien Schiffahrt auf
einstatlichen Weltströmen ist also unhaltbar.

Vermittlung in Streitfällen.
Schiedsrichterliches Verfahren.

Gerathen zwei Staten in einen ernsten Rechtsstreit mit einander, so
sind sie noch immer geneigt, in Ermanglung eines völkerrechtlichen Gerichts-
hofs, den Weg der Selbsthülfe zu betreten, und die äußerste Selbsthülfe
ist der Krieg. Es ist das ohne Zweifel noch eine barbarische Seite der
heutigen Weltordnung, und wir müssen zugestehen, daß in dieser höchst
wichtigen Hinsicht die Fortschritte des Völkerrechts noch beschämend klein
sind. Wir können höchstens einige unentwickelte Keime zu einer civilisir-
teren Rechtspflege entdecken. Auf dem Pariser Congresse von 1856 gaben
die versammelten Mächte im Interesse des Friedens den Wunsch zu Pro-
tokoll, daß die Staten, unter denen ein Streit sich erhebe, nicht sofort zu
den Waffen greifen, sondern zuvor die guten Dienste einer befreun-
deten Macht
anrufen möchten, um den Streit friedlich zu schlichten.
Man wagte nicht, den Wunsch als Rechtsforderung auszusprechen, und die
Mächte wollten sich selber nicht binden.

Vielleicht wird, was hier gewünscht ward, später in eine völkerrecht-
liche Rechtspflicht umgewandelt, ebenso wie in manchen Ländern die Rechts-
streite der Privatpersonen vorerst an einen Friedensrichter zum Sühnever-
such gebracht werden müssen, bevor sie gerichtlich im Proceß verfolgt werden
dürfen. Es wäre damit der Krieg nicht verhindert, aber eine neue Ga-
rantie für den Frieden gewonnen.

In den Statenbünden gibt es auch kein Bundesgericht, welches zu-
ständig wäre, über die Streitigkeiten zwischen den verbündeten Einzelstaten
zu urtheilen. Da kennt man seit Jahrhunderten das Verfahren vor
Schiedsrichtern oder Austrägen, welche den Proceß ohne Krieg
durch Rechtsspruch erledigen. Den Einzelstaaten ist es oft zur Pflicht ge-
macht, diesen schiedsrichterlichen Weg zu betreten und sich aller kriegerischen
Gewalt zu enthalten. Auch unter nicht verbündeten Staten wird zuweilen
dieses Mittel der Rechtspflege benutzt, aber eine allgemeine Rechtspflicht
dazu besteht noch nicht. Vielleicht wird es einem der nächsten völkerrecht-

Einleitung.
Spanien Theil hatten und gehört heute ganz den Vereinigten Staten zu.
Hat er in Folge deſſen ſeine Natur verändert und iſt ſeine Bedeutung für
den Weltverkehr geringer geworden? Jene Unterſcheidung zwiſchen der freien
Schiffahrt auf mehrſtatlichen Weltſtrömen und der unfreien Schiffahrt auf
einſtatlichen Weltſtrömen iſt alſo unhaltbar.

Vermittlung in Streitfällen.
Schiedsrichterliches Verfahren.

Gerathen zwei Staten in einen ernſten Rechtsſtreit mit einander, ſo
ſind ſie noch immer geneigt, in Ermanglung eines völkerrechtlichen Gerichts-
hofs, den Weg der Selbſthülfe zu betreten, und die äußerſte Selbſthülfe
iſt der Krieg. Es iſt das ohne Zweifel noch eine barbariſche Seite der
heutigen Weltordnung, und wir müſſen zugeſtehen, daß in dieſer höchſt
wichtigen Hinſicht die Fortſchritte des Völkerrechts noch beſchämend klein
ſind. Wir können höchſtens einige unentwickelte Keime zu einer civiliſir-
teren Rechtspflege entdecken. Auf dem Pariſer Congreſſe von 1856 gaben
die verſammelten Mächte im Intereſſe des Friedens den Wunſch zu Pro-
tokoll, daß die Staten, unter denen ein Streit ſich erhebe, nicht ſofort zu
den Waffen greifen, ſondern zuvor die guten Dienſte einer befreun-
deten Macht
anrufen möchten, um den Streit friedlich zu ſchlichten.
Man wagte nicht, den Wunſch als Rechtsforderung auszuſprechen, und die
Mächte wollten ſich ſelber nicht binden.

Vielleicht wird, was hier gewünſcht ward, ſpäter in eine völkerrecht-
liche Rechtspflicht umgewandelt, ebenſo wie in manchen Ländern die Rechts-
ſtreite der Privatperſonen vorerſt an einen Friedensrichter zum Sühnever-
ſuch gebracht werden müſſen, bevor ſie gerichtlich im Proceß verfolgt werden
dürfen. Es wäre damit der Krieg nicht verhindert, aber eine neue Ga-
rantie für den Frieden gewonnen.

In den Statenbünden gibt es auch kein Bundesgericht, welches zu-
ſtändig wäre, über die Streitigkeiten zwiſchen den verbündeten Einzelſtaten
zu urtheilen. Da kennt man ſeit Jahrhunderten das Verfahren vor
Schiedsrichtern oder Austrägen, welche den Proceß ohne Krieg
durch Rechtsſpruch erledigen. Den Einzelſtaaten iſt es oft zur Pflicht ge-
macht, dieſen ſchiedsrichterlichen Weg zu betreten und ſich aller kriegeriſchen
Gewalt zu enthalten. Auch unter nicht verbündeten Staten wird zuweilen
dieſes Mittel der Rechtspflege benutzt, aber eine allgemeine Rechtspflicht
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[29/0051] Einleitung. Spanien Theil hatten und gehört heute ganz den Vereinigten Staten zu. Hat er in Folge deſſen ſeine Natur verändert und iſt ſeine Bedeutung für den Weltverkehr geringer geworden? Jene Unterſcheidung zwiſchen der freien Schiffahrt auf mehrſtatlichen Weltſtrömen und der unfreien Schiffahrt auf einſtatlichen Weltſtrömen iſt alſo unhaltbar. Vermittlung in Streitfällen. Schiedsrichterliches Verfahren. Gerathen zwei Staten in einen ernſten Rechtsſtreit mit einander, ſo ſind ſie noch immer geneigt, in Ermanglung eines völkerrechtlichen Gerichts- hofs, den Weg der Selbſthülfe zu betreten, und die äußerſte Selbſthülfe iſt der Krieg. Es iſt das ohne Zweifel noch eine barbariſche Seite der heutigen Weltordnung, und wir müſſen zugeſtehen, daß in dieſer höchſt wichtigen Hinſicht die Fortſchritte des Völkerrechts noch beſchämend klein ſind. Wir können höchſtens einige unentwickelte Keime zu einer civiliſir- teren Rechtspflege entdecken. Auf dem Pariſer Congreſſe von 1856 gaben die verſammelten Mächte im Intereſſe des Friedens den Wunſch zu Pro- tokoll, daß die Staten, unter denen ein Streit ſich erhebe, nicht ſofort zu den Waffen greifen, ſondern zuvor die guten Dienſte einer befreun- deten Macht anrufen möchten, um den Streit friedlich zu ſchlichten. Man wagte nicht, den Wunſch als Rechtsforderung auszuſprechen, und die Mächte wollten ſich ſelber nicht binden. Vielleicht wird, was hier gewünſcht ward, ſpäter in eine völkerrecht- liche Rechtspflicht umgewandelt, ebenſo wie in manchen Ländern die Rechts- ſtreite der Privatperſonen vorerſt an einen Friedensrichter zum Sühnever- ſuch gebracht werden müſſen, bevor ſie gerichtlich im Proceß verfolgt werden dürfen. Es wäre damit der Krieg nicht verhindert, aber eine neue Ga- rantie für den Frieden gewonnen. In den Statenbünden gibt es auch kein Bundesgericht, welches zu- ſtändig wäre, über die Streitigkeiten zwiſchen den verbündeten Einzelſtaten zu urtheilen. Da kennt man ſeit Jahrhunderten das Verfahren vor Schiedsrichtern oder Austrägen, welche den Proceß ohne Krieg durch Rechtsſpruch erledigen. Den Einzelſtaaten iſt es oft zur Pflicht ge- macht, dieſen ſchiedsrichterlichen Weg zu betreten und ſich aller kriegeriſchen Gewalt zu enthalten. Auch unter nicht verbündeten Staten wird zuweilen dieſes Mittel der Rechtspflege benutzt, aber eine allgemeine Rechtspflicht dazu beſteht noch nicht. Vielleicht wird es einem der nächſten völkerrecht-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/51>, abgerufen am 19.04.2024.