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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Völkerrechtliche Personen.
rechtlichen Grundsätzen zu entscheiden. Wie die Statenbildung so geht auch das
Statsrecht in diesen Dingen dem Völkerrechte vorher.

30.

Die Anerkennung des bei der Neubildung betheiligten und vielleicht
dadurch verletzten alten Stats hat eine stärkere Wirkung als die Anerken-
nung von Seite der unbetheiligten und daher neutralen Staten, aber es
ist nicht nothwendig, daß die erstere der letzteren vorausgehe, wenn gleich
sie einmal vollzogen eher die letztere nachzieht.

Die Anerkennung von Seite des alten betheiligten States hebt die Zweifel
und beendigt den Streit über die Neubildung. Sie drückt derselben daher den Stem-
pel der Rechtmäßigkeit auf. Vgl. darüber die Rede des Ministers Canning bei
Phillimore II. §. 11. Aber es wird dem betheiligten alten Stat oft schwerer,
den neuen Stat anzuerkennen, als den unbefangenen dritten Staten. So hat, um
nur Beispiele aus dem letzten Jahrhundert zu geben, Frankreich früher die Ver-
einigten Staten
von Nordamerika anerkannt, als der Mutterstat England,
und hinwieder England früher die südamerikanischen Staten als der
Mutterstat Spanien, die meisten europäischen Mächte früher das Königreich
Italien, als das mittelbar betheiligte Oesterreich und dieses früher als das
unmittelbar betheiligte Papstthum.

31.

So lange noch der offene Kampf über die neue Statenbildung fort-
dauert und es demgemäß zweifelhaft ist, ob wirklich ein neuer Stat ent-
standen sei, ist kein anderer Stat verpflichtet, den neuen Stat anzuerkennen.

Beispiele aus neuerer Zeit sind die eine Zeit lang verfehlten Versuche der
südamerikanischen Colonien sich loszureißen von den Mutterstaten, die
unglücklichen Kämpfe der Polen 1830/32, 1863 und der Magyaren 1848/49
für Herstellung eines besonderen States, der nordamerikanische Südbund
1861--1865.

32.

Es kommt, in Ermanglung eines Weltgerichts, jedem vorhandenen
State zu, selbständig zu beurtheilen, ob die Neubildung eines States den
zeitigen Bedürfnissen des Völkerlebens entspreche und eine ausreichende
statliche Kraft vorhanden sei, um der Neubildung Sieg und Dauer zu
verleihen. Wenn er sich überzeugt, daß diese Fragen zu bejahen seien,
so ist er auch berechtigt, den neuen Stat als Stat anzuerkennen, obwohl
der Kampf noch fortdauert.

Völkerrechtliche Perſonen.
rechtlichen Grundſätzen zu entſcheiden. Wie die Statenbildung ſo geht auch das
Statsrecht in dieſen Dingen dem Völkerrechte vorher.

30.

Die Anerkennung des bei der Neubildung betheiligten und vielleicht
dadurch verletzten alten Stats hat eine ſtärkere Wirkung als die Anerken-
nung von Seite der unbetheiligten und daher neutralen Staten, aber es
iſt nicht nothwendig, daß die erſtere der letzteren vorausgehe, wenn gleich
ſie einmal vollzogen eher die letztere nachzieht.

Die Anerkennung von Seite des alten betheiligten States hebt die Zweifel
und beendigt den Streit über die Neubildung. Sie drückt derſelben daher den Stem-
pel der Rechtmäßigkeit auf. Vgl. darüber die Rede des Miniſters Canning bei
Phillimore II. §. 11. Aber es wird dem betheiligten alten Stat oft ſchwerer,
den neuen Stat anzuerkennen, als den unbefangenen dritten Staten. So hat, um
nur Beiſpiele aus dem letzten Jahrhundert zu geben, Frankreich früher die Ver-
einigten Staten
von Nordamerika anerkannt, als der Mutterſtat England,
und hinwieder England früher die ſüdamerikaniſchen Staten als der
Mutterſtat Spanien, die meiſten europäiſchen Mächte früher das Königreich
Italien, als das mittelbar betheiligte Oeſterreich und dieſes früher als das
unmittelbar betheiligte Papſtthum.

31.

So lange noch der offene Kampf über die neue Statenbildung fort-
dauert und es demgemäß zweifelhaft iſt, ob wirklich ein neuer Stat ent-
ſtanden ſei, iſt kein anderer Stat verpflichtet, den neuen Stat anzuerkennen.

Beiſpiele aus neuerer Zeit ſind die eine Zeit lang verfehlten Verſuche der
ſüdamerikaniſchen Colonien ſich loszureißen von den Mutterſtaten, die
unglücklichen Kämpfe der Polen 1830/32, 1863 und der Magyaren 1848/49
für Herſtellung eines beſonderen States, der nordamerikaniſche Südbund
1861—1865.

32.

Es kommt, in Ermanglung eines Weltgerichts, jedem vorhandenen
State zu, ſelbſtändig zu beurtheilen, ob die Neubildung eines States den
zeitigen Bedürfniſſen des Völkerlebens entſpreche und eine ausreichende
ſtatliche Kraft vorhanden ſei, um der Neubildung Sieg und Dauer zu
verleihen. Wenn er ſich überzeugt, daß dieſe Fragen zu bejahen ſeien,
ſo iſt er auch berechtigt, den neuen Stat als Stat anzuerkennen, obwohl
der Kampf noch fortdauert.

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[69/0091] Völkerrechtliche Perſonen. rechtlichen Grundſätzen zu entſcheiden. Wie die Statenbildung ſo geht auch das Statsrecht in dieſen Dingen dem Völkerrechte vorher. 30. Die Anerkennung des bei der Neubildung betheiligten und vielleicht dadurch verletzten alten Stats hat eine ſtärkere Wirkung als die Anerken- nung von Seite der unbetheiligten und daher neutralen Staten, aber es iſt nicht nothwendig, daß die erſtere der letzteren vorausgehe, wenn gleich ſie einmal vollzogen eher die letztere nachzieht. Die Anerkennung von Seite des alten betheiligten States hebt die Zweifel und beendigt den Streit über die Neubildung. Sie drückt derſelben daher den Stem- pel der Rechtmäßigkeit auf. Vgl. darüber die Rede des Miniſters Canning bei Phillimore II. §. 11. Aber es wird dem betheiligten alten Stat oft ſchwerer, den neuen Stat anzuerkennen, als den unbefangenen dritten Staten. So hat, um nur Beiſpiele aus dem letzten Jahrhundert zu geben, Frankreich früher die Ver- einigten Staten von Nordamerika anerkannt, als der Mutterſtat England, und hinwieder England früher die ſüdamerikaniſchen Staten als der Mutterſtat Spanien, die meiſten europäiſchen Mächte früher das Königreich Italien, als das mittelbar betheiligte Oeſterreich und dieſes früher als das unmittelbar betheiligte Papſtthum. 31. So lange noch der offene Kampf über die neue Statenbildung fort- dauert und es demgemäß zweifelhaft iſt, ob wirklich ein neuer Stat ent- ſtanden ſei, iſt kein anderer Stat verpflichtet, den neuen Stat anzuerkennen. Beiſpiele aus neuerer Zeit ſind die eine Zeit lang verfehlten Verſuche der ſüdamerikaniſchen Colonien ſich loszureißen von den Mutterſtaten, die unglücklichen Kämpfe der Polen 1830/32, 1863 und der Magyaren 1848/49 für Herſtellung eines beſonderen States, der nordamerikaniſche Südbund 1861—1865. 32. Es kommt, in Ermanglung eines Weltgerichts, jedem vorhandenen State zu, ſelbſtändig zu beurtheilen, ob die Neubildung eines States den zeitigen Bedürfniſſen des Völkerlebens entſpreche und eine ausreichende ſtatliche Kraft vorhanden ſei, um der Neubildung Sieg und Dauer zu verleihen. Wenn er ſich überzeugt, daß dieſe Fragen zu bejahen ſeien, ſo iſt er auch berechtigt, den neuen Stat als Stat anzuerkennen, obwohl der Kampf noch fortdauert.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/91>, abgerufen am 28.03.2024.