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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Völkerrechtliche Personen.
Statsbegriff gegeben. Weitere Beschränkungen andern Staten gegenüber erfordern
daher eine besondere Begründung, wie namentlich durch Verträge.

68.

Zu den regelmäßigen Souveränetätsrechten eines States gehören:

a) das Recht, seine Verfassung selber zu bestimmen;
b) das Recht selbständiger Gesetzgebung für sein Volk und Land;
c) die Selbstregierung und Selbstverwaltung;
d) die freie Besetzung der öffentlichen Aemter;
e) das Recht, für den Verkehr mit andern Staten seine Stellvertreter
zu bezeichnen und zu ermächtigen.

Es kommt den fremden Staten nicht zu, sich in die Ausübung die-
ser Rechte einzumischen, es wäre denn, daß bei derselben das Völkerrecht
mißachtet würde.

In der Verfassung spricht der Stat die Grundsätze seines eigenen Daseins
aus und bildet er die Organe seines eigenen Lebens aus. Die Verfassunggebende
Gewalt ist daher Statsgewalt. Jeder Stat erscheint daher dem andern gegenüber
als eine sich selber ordnende Macht. So wenig meine Nachbarn berechtigt
sind, den Styl und die Einrichtung meines Hauses mir vorzuschreiben, so wenig
haben die Nachbarstaten ein Recht, über die Verfassung eines fremden States Vor-
schriften zu geben. Es ist freilich auch für die Nachbarstaten politisch nicht gleich-
gültig, wie die Verfassung eines anstoßenden States beschaffen sei und es können je
nach Umständen Parteiverbindungen von einem State zum andern bald förderlich
bald gefährlich erscheinen. Daher haben oft schon mächtigere Staten einen Einfluß
geübt auf die Verfassungsänderungen ihrer Nachbarstaten. Die französische Republik
hat sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts mit republikanischen Nachbar-
staten
, Napoleon I. hat Frankreich mit Napoleonischen Vasallenstaten zu
umgeben gesucht. Aber gerade diese Beispiele warnen vor solchen Eingriffen in die
natürliche Verfassungsbildung fremder Völker, denn nirgends sind durch die Einwir-
kung von außen her dauernde Verfassungszustände zu Stande gekommen. Auch die
Interventionen der heiligen Allianz in Italien und Spanien zur Herstellung der
absoluten Monarchie
haben nur vorübergehend den natürlichen Entwicklungs-
gang zu stören, aber nicht auf die Dauer zu hindern vermocht. Ebenso unglücklich ist
in neuester Zeit der Versuch Napoleons III. ausgefallen, in Mexiko ein Kaiserthum
mit französischer Hülfe einzurichten. Recht und Politik weisen darauf hin, daß man
jedem Volke überlasse, die Formen seines Gesammtlebens selber zu bestimmen. Erst
wenn daraus eine wirkliche Gefahr entsteht für die Sicherheit der andern Staten
und für die völkerrechtliche Rechtsordnung, ist eine Einmischung in die Verfassungs-
arbeiten zu rechtfertigen.

69.

Kein Stat braucht zu dulden, daß innerhalb seines Gebietes ein

Völkerrechtliche Perſonen.
Statsbegriff gegeben. Weitere Beſchränkungen andern Staten gegenüber erfordern
daher eine beſondere Begründung, wie namentlich durch Verträge.

68.

Zu den regelmäßigen Souveränetätsrechten eines States gehören:

a) das Recht, ſeine Verfaſſung ſelber zu beſtimmen;
b) das Recht ſelbſtändiger Geſetzgebung für ſein Volk und Land;
c) die Selbſtregierung und Selbſtverwaltung;
d) die freie Beſetzung der öffentlichen Aemter;
e) das Recht, für den Verkehr mit andern Staten ſeine Stellvertreter
zu bezeichnen und zu ermächtigen.

Es kommt den fremden Staten nicht zu, ſich in die Ausübung die-
ſer Rechte einzumiſchen, es wäre denn, daß bei derſelben das Völkerrecht
mißachtet würde.

In der Verfaſſung ſpricht der Stat die Grundſätze ſeines eigenen Daſeins
aus und bildet er die Organe ſeines eigenen Lebens aus. Die Verfaſſunggebende
Gewalt iſt daher Statsgewalt. Jeder Stat erſcheint daher dem andern gegenüber
als eine ſich ſelber ordnende Macht. So wenig meine Nachbarn berechtigt
ſind, den Styl und die Einrichtung meines Hauſes mir vorzuſchreiben, ſo wenig
haben die Nachbarſtaten ein Recht, über die Verfaſſung eines fremden States Vor-
ſchriften zu geben. Es iſt freilich auch für die Nachbarſtaten politiſch nicht gleich-
gültig, wie die Verfaſſung eines anſtoßenden States beſchaffen ſei und es können je
nach Umſtänden Parteiverbindungen von einem State zum andern bald förderlich
bald gefährlich erſcheinen. Daher haben oft ſchon mächtigere Staten einen Einfluß
geübt auf die Verfaſſungsänderungen ihrer Nachbarſtaten. Die franzöſiſche Republik
hat ſich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts mit republikaniſchen Nachbar-
ſtaten
, Napoleon I. hat Frankreich mit Napoleoniſchen Vaſallenſtaten zu
umgeben geſucht. Aber gerade dieſe Beiſpiele warnen vor ſolchen Eingriffen in die
natürliche Verfaſſungsbildung fremder Völker, denn nirgends ſind durch die Einwir-
kung von außen her dauernde Verfaſſungszuſtände zu Stande gekommen. Auch die
Interventionen der heiligen Allianz in Italien und Spanien zur Herſtellung der
abſoluten Monarchie
haben nur vorübergehend den natürlichen Entwicklungs-
gang zu ſtören, aber nicht auf die Dauer zu hindern vermocht. Ebenſo unglücklich iſt
in neueſter Zeit der Verſuch Napoleons III. ausgefallen, in Mexiko ein Kaiſerthum
mit franzöſiſcher Hülfe einzurichten. Recht und Politik weiſen darauf hin, daß man
jedem Volke überlaſſe, die Formen ſeines Geſammtlebens ſelber zu beſtimmen. Erſt
wenn daraus eine wirkliche Gefahr entſteht für die Sicherheit der andern Staten
und für die völkerrechtliche Rechtsordnung, iſt eine Einmiſchung in die Verfaſſungs-
arbeiten zu rechtfertigen.

69.

Kein Stat braucht zu dulden, daß innerhalb ſeines Gebietes ein

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[85/0107] Völkerrechtliche Perſonen. Statsbegriff gegeben. Weitere Beſchränkungen andern Staten gegenüber erfordern daher eine beſondere Begründung, wie namentlich durch Verträge. 68. Zu den regelmäßigen Souveränetätsrechten eines States gehören: a) das Recht, ſeine Verfaſſung ſelber zu beſtimmen; b) das Recht ſelbſtändiger Geſetzgebung für ſein Volk und Land; c) die Selbſtregierung und Selbſtverwaltung; d) die freie Beſetzung der öffentlichen Aemter; e) das Recht, für den Verkehr mit andern Staten ſeine Stellvertreter zu bezeichnen und zu ermächtigen. Es kommt den fremden Staten nicht zu, ſich in die Ausübung die- ſer Rechte einzumiſchen, es wäre denn, daß bei derſelben das Völkerrecht mißachtet würde. In der Verfaſſung ſpricht der Stat die Grundſätze ſeines eigenen Daſeins aus und bildet er die Organe ſeines eigenen Lebens aus. Die Verfaſſunggebende Gewalt iſt daher Statsgewalt. Jeder Stat erſcheint daher dem andern gegenüber als eine ſich ſelber ordnende Macht. So wenig meine Nachbarn berechtigt ſind, den Styl und die Einrichtung meines Hauſes mir vorzuſchreiben, ſo wenig haben die Nachbarſtaten ein Recht, über die Verfaſſung eines fremden States Vor- ſchriften zu geben. Es iſt freilich auch für die Nachbarſtaten politiſch nicht gleich- gültig, wie die Verfaſſung eines anſtoßenden States beſchaffen ſei und es können je nach Umſtänden Parteiverbindungen von einem State zum andern bald förderlich bald gefährlich erſcheinen. Daher haben oft ſchon mächtigere Staten einen Einfluß geübt auf die Verfaſſungsänderungen ihrer Nachbarſtaten. Die franzöſiſche Republik hat ſich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts mit republikaniſchen Nachbar- ſtaten, Napoleon I. hat Frankreich mit Napoleoniſchen Vaſallenſtaten zu umgeben geſucht. Aber gerade dieſe Beiſpiele warnen vor ſolchen Eingriffen in die natürliche Verfaſſungsbildung fremder Völker, denn nirgends ſind durch die Einwir- kung von außen her dauernde Verfaſſungszuſtände zu Stande gekommen. Auch die Interventionen der heiligen Allianz in Italien und Spanien zur Herſtellung der abſoluten Monarchie haben nur vorübergehend den natürlichen Entwicklungs- gang zu ſtören, aber nicht auf die Dauer zu hindern vermocht. Ebenſo unglücklich iſt in neueſter Zeit der Verſuch Napoleons III. ausgefallen, in Mexiko ein Kaiſerthum mit franzöſiſcher Hülfe einzurichten. Recht und Politik weiſen darauf hin, daß man jedem Volke überlaſſe, die Formen ſeines Geſammtlebens ſelber zu beſtimmen. Erſt wenn daraus eine wirkliche Gefahr entſteht für die Sicherheit der andern Staten und für die völkerrechtliche Rechtsordnung, iſt eine Einmiſchung in die Verfaſſungs- arbeiten zu rechtfertigen. 69. Kein Stat braucht zu dulden, daß innerhalb ſeines Gebietes ein

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/107>, abgerufen am 29.03.2024.