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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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fremder Stat irgend welche Statshandlungen vornehme, sei es der Policei
oder der Besteurung, der militärischen oder der Justizgewalt. Jeder Stat
ist verpflichtet, sich der statlichen Ein- und Uebergriffe in fremdes Stats-
gebiet zu enthalten.

Vorbehalten sind theils allgemeine völkerrechtlich anerkannte Aus-
nahmen theils die besonderen Statsdienstbarkeiten.

1. In dem Bereich der civilisirten europäischen und amerikanischen Staten-
welt ist dieser Grundsatz vollständiger anerkannt, als im Verhältniß zu barbarischen
Völkern oder Staten einer der unsrigen sehr fernen und fremden Civilisation. Da
wird noch die Policei und die Justiz über die auswärts wohnenden Landsleute in
fremdem Gebiet möglichst von dem State ihrer Heimat verwaltet. Der Grundsatz
des persönlichen Rechtes, welches das Volk verbindet, wo immer seine Genos-
sen sich aufhalten, überwiegt da noch über die Regel des Landesrechtes, welches
ausschließlich von der im Lande bestehenden Statsgewalt gehandhabt wird.

2. Allgemeine völkerrechtlich anerkannte Ausnahmen sind z. B. das Recht
der Exterritorialität und das Recht der Schiffahrt über den Küstensaum.

70.

In der Regel gibt es nur Eine Souveränetät für ein bestimmtes
Volk und Land, wie nur Einen Stat.

Ausnahmsweise zeigt sich in zusammengesetzten Staten (Bundes-
staten, Statenreichen, Statenbünden) auf demselben Boden und für dieselbe
Bevölkerung eine Doppelsouveränetät wie eine zwiefache Statenbildung, die
eine des Gesammtstates, die andere der Einzelstaten.

Bundesstaten und Statenbünde sind beides föderative und daher meist repu-
blikanische Verbände einer Anzahl von Einzelstaten. Aelter ist die Form der Staten-
bünde
, welche nur eine genossenschaftliche Gemeinschaft der mehreren Einzelstaten
zu gemeinsamen Zwecken darstellt und daher nur Gesantencongresse keine einheitlichen
Gesammtorgane kennt. Man kann daher diese Verbindung nur in uneigentlichem
Sinne Gesammtstat nennen. Sie schwankt noch zwischen völkerrechtlicher und stats-
rechtlicher Gestaltung. Von der Art waren die Hansestädte im Mittelalter die
Republik der Niederlande, die schweizerische Eidgenossenschaft vor
1798 und wieder 1803 bis 1848, die ursprüngliche Bundesverfassung der Ver-
einigten Staten
von 1776 bis 1787, der deutsche Bund von 1815--1866.

Der Bundesstat dagegen ist eine einheitliche Gestaltung des Gesammtstates,
der schärfer unterschieden wird von den Einzelstaten und in sich als Stat vollstän-
dig organisirt ist. Zuerst erscheint diese Form ausgebildet in Nordamerika seit
1787, und ist in der Schweiz 1848 nachgebildet worden. Das Statenreich ist mehr
eine monarchische und daher in höherem Sinne einheitliche Zusammenfassung
einer Mehrzahl von Einzelstaten zu einem Gesammtstate. Im Mittelalter hatte das

Zweites Buch.
fremder Stat irgend welche Statshandlungen vornehme, ſei es der Policei
oder der Beſteurung, der militäriſchen oder der Juſtizgewalt. Jeder Stat
iſt verpflichtet, ſich der ſtatlichen Ein- und Uebergriffe in fremdes Stats-
gebiet zu enthalten.

Vorbehalten ſind theils allgemeine völkerrechtlich anerkannte Aus-
nahmen theils die beſonderen Statsdienſtbarkeiten.

1. In dem Bereich der civiliſirten europäiſchen und amerikaniſchen Staten-
welt iſt dieſer Grundſatz vollſtändiger anerkannt, als im Verhältniß zu barbariſchen
Völkern oder Staten einer der unſrigen ſehr fernen und fremden Civiliſation. Da
wird noch die Policei und die Juſtiz über die auswärts wohnenden Landsleute in
fremdem Gebiet möglichſt von dem State ihrer Heimat verwaltet. Der Grundſatz
des perſönlichen Rechtes, welches das Volk verbindet, wo immer ſeine Genoſ-
ſen ſich aufhalten, überwiegt da noch über die Regel des Landesrechtes, welches
ausſchließlich von der im Lande beſtehenden Statsgewalt gehandhabt wird.

2. Allgemeine völkerrechtlich anerkannte Ausnahmen ſind z. B. das Recht
der Exterritorialität und das Recht der Schiffahrt über den Küſtenſaum.

70.

In der Regel gibt es nur Eine Souveränetät für ein beſtimmtes
Volk und Land, wie nur Einen Stat.

Ausnahmsweiſe zeigt ſich in zuſammengeſetzten Staten (Bundes-
ſtaten, Statenreichen, Statenbünden) auf demſelben Boden und für dieſelbe
Bevölkerung eine Doppelſouveränetät wie eine zwiefache Statenbildung, die
eine des Geſammtſtates, die andere der Einzelſtaten.

Bundesſtaten und Statenbünde ſind beides föderative und daher meiſt repu-
blikaniſche Verbände einer Anzahl von Einzelſtaten. Aelter iſt die Form der Staten-
bünde
, welche nur eine genoſſenſchaftliche Gemeinſchaft der mehreren Einzelſtaten
zu gemeinſamen Zwecken darſtellt und daher nur Geſantencongreſſe keine einheitlichen
Geſammtorgane kennt. Man kann daher dieſe Verbindung nur in uneigentlichem
Sinne Geſammtſtat nennen. Sie ſchwankt noch zwiſchen völkerrechtlicher und ſtats-
rechtlicher Geſtaltung. Von der Art waren die Hanſeſtädte im Mittelalter die
Republik der Niederlande, die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaft vor
1798 und wieder 1803 bis 1848, die urſprüngliche Bundesverfaſſung der Ver-
einigten Staten
von 1776 bis 1787, der deutſche Bund von 1815—1866.

Der Bundesſtat dagegen iſt eine einheitliche Geſtaltung des Geſammtſtates,
der ſchärfer unterſchieden wird von den Einzelſtaten und in ſich als Stat vollſtän-
dig organiſirt iſt. Zuerſt erſcheint dieſe Form ausgebildet in Nordamerika ſeit
1787, und iſt in der Schweiz 1848 nachgebildet worden. Das Statenreich iſt mehr
eine monarchiſche und daher in höherem Sinne einheitliche Zuſammenfaſſung
einer Mehrzahl von Einzelſtaten zu einem Geſammtſtate. Im Mittelalter hatte das

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[86/0108] Zweites Buch. fremder Stat irgend welche Statshandlungen vornehme, ſei es der Policei oder der Beſteurung, der militäriſchen oder der Juſtizgewalt. Jeder Stat iſt verpflichtet, ſich der ſtatlichen Ein- und Uebergriffe in fremdes Stats- gebiet zu enthalten. Vorbehalten ſind theils allgemeine völkerrechtlich anerkannte Aus- nahmen theils die beſonderen Statsdienſtbarkeiten. 1. In dem Bereich der civiliſirten europäiſchen und amerikaniſchen Staten- welt iſt dieſer Grundſatz vollſtändiger anerkannt, als im Verhältniß zu barbariſchen Völkern oder Staten einer der unſrigen ſehr fernen und fremden Civiliſation. Da wird noch die Policei und die Juſtiz über die auswärts wohnenden Landsleute in fremdem Gebiet möglichſt von dem State ihrer Heimat verwaltet. Der Grundſatz des perſönlichen Rechtes, welches das Volk verbindet, wo immer ſeine Genoſ- ſen ſich aufhalten, überwiegt da noch über die Regel des Landesrechtes, welches ausſchließlich von der im Lande beſtehenden Statsgewalt gehandhabt wird. 2. Allgemeine völkerrechtlich anerkannte Ausnahmen ſind z. B. das Recht der Exterritorialität und das Recht der Schiffahrt über den Küſtenſaum. 70. In der Regel gibt es nur Eine Souveränetät für ein beſtimmtes Volk und Land, wie nur Einen Stat. Ausnahmsweiſe zeigt ſich in zuſammengeſetzten Staten (Bundes- ſtaten, Statenreichen, Statenbünden) auf demſelben Boden und für dieſelbe Bevölkerung eine Doppelſouveränetät wie eine zwiefache Statenbildung, die eine des Geſammtſtates, die andere der Einzelſtaten. Bundesſtaten und Statenbünde ſind beides föderative und daher meiſt repu- blikaniſche Verbände einer Anzahl von Einzelſtaten. Aelter iſt die Form der Staten- bünde, welche nur eine genoſſenſchaftliche Gemeinſchaft der mehreren Einzelſtaten zu gemeinſamen Zwecken darſtellt und daher nur Geſantencongreſſe keine einheitlichen Geſammtorgane kennt. Man kann daher dieſe Verbindung nur in uneigentlichem Sinne Geſammtſtat nennen. Sie ſchwankt noch zwiſchen völkerrechtlicher und ſtats- rechtlicher Geſtaltung. Von der Art waren die Hanſeſtädte im Mittelalter die Republik der Niederlande, die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaft vor 1798 und wieder 1803 bis 1848, die urſprüngliche Bundesverfaſſung der Ver- einigten Staten von 1776 bis 1787, der deutſche Bund von 1815—1866. Der Bundesſtat dagegen iſt eine einheitliche Geſtaltung des Geſammtſtates, der ſchärfer unterſchieden wird von den Einzelſtaten und in ſich als Stat vollſtän- dig organiſirt iſt. Zuerſt erſcheint dieſe Form ausgebildet in Nordamerika ſeit 1787, und iſt in der Schweiz 1848 nachgebildet worden. Das Statenreich iſt mehr eine monarchiſche und daher in höherem Sinne einheitliche Zuſammenfaſſung einer Mehrzahl von Einzelſtaten zu einem Geſammtſtate. Im Mittelalter hatte das

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/108>, abgerufen am 24.04.2024.