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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Einleitung.
die als rechtlich-nothwendig anerkannte Ordnung, welche die Beziehungen
der Staten zu einander regelt. Die Staten aber d. h. die organisirten
Völker bestehen aus Menschen, und sind selber als einheitliche Gesammt-
wesen Personen, d. h. lebendige mit Willen begabte Rechtskörper, wie
die Einzelmenschen. Die Staten sind wie die Einzelnen einerseits indivi-
duelle Wesen für sich und andrerseits Glieder der Menschheit.
Dieselbe Menschennatur, und demgemäß auch dieselbe Rechtsnatur, die
jedes Volk und jeder Stat in sich hat, die findet er wieder in den andern
Völkern und Staten. Sie verbindet alle Völker mit unwiderstehlicher
Nothwendigkeit. Keines kann sich dieser gemeinsamen Natur entäußern,
keines dieselbe in dem andern Volke verkennen. Deshalb sind sie alle durch
ihre gemeinsame Menschennatur verpflichtet, sich wechselseitig als menschliche
Rechtswesen zu achten. Das ist die feste und dauerhafte Grundlage alles
Völkerrechts. Würde es heute geläugnet und untergehen, so würde es
morgen wieder behauptet und neu begründet.

Bedenken gegen das Völkerrecht.

Trotzdem werden heute noch starke Zweifel gegen die Existenz des
Völkerrechts vielfältig geäußert. Die grundsätzlichen und die thatsächlichen
Bedenken, auf welche sich jene Zweifel stützen, sind in der That nicht
geringfügig. Sie fordern vielmehr zu ernster Prüfung auf. Man wendet
ein, es fehle vorerst an einer beglaubigten Aussprache des Völkerrechts durch
das Gesetz, sodann an einem wirksamen Schutze desselben durch die Rechts-
pflege; und man erinnert daran, daß in dem Streite der Staten und
Völker der Entscheid eher von der siegreichen Gewalt gegeben werde, als
von irgend einer Rechtsautorität. Man fragt dann: Wie kann ernstlich
von Völkerrecht die Rede sein, ohne ein Völkergesetz, welches das Recht mit
Autorität verkündet, ohne ein Völkergericht, welches dieses Recht in Rechts-
form handhabt, wenn die Macht schließlich allezeit den Ausschlag giebt?

Wir können es nicht läugnen: Diese Bedenken haben ihren Grund
in großen Mängeln und schweren Gebrechen des Völkerrechts. Dennoch ist
der Schluß, daß es kein Völkerrecht gebe, übereilt und verfehlt. Fassen
wir dieselben schärfer ins Auge.

1. Völkerrechtliche Gesetzgebung.

Wir sind heute gewohnt, wenn irgend Fragen des Familienrechts,
des Erbrechts, des Vermögensrechts auftauchen, ein privatrechtliches Gesetz-

Einleitung.
die als rechtlich-nothwendig anerkannte Ordnung, welche die Beziehungen
der Staten zu einander regelt. Die Staten aber d. h. die organiſirten
Völker beſtehen aus Menſchen, und ſind ſelber als einheitliche Geſammt-
weſen Perſonen, d. h. lebendige mit Willen begabte Rechtskörper, wie
die Einzelmenſchen. Die Staten ſind wie die Einzelnen einerſeits indivi-
duelle Weſen für ſich und andrerſeits Glieder der Menſchheit.
Dieſelbe Menſchennatur, und demgemäß auch dieſelbe Rechtsnatur, die
jedes Volk und jeder Stat in ſich hat, die findet er wieder in den andern
Völkern und Staten. Sie verbindet alle Völker mit unwiderſtehlicher
Nothwendigkeit. Keines kann ſich dieſer gemeinſamen Natur entäußern,
keines dieſelbe in dem andern Volke verkennen. Deshalb ſind ſie alle durch
ihre gemeinſame Menſchennatur verpflichtet, ſich wechſelſeitig als menſchliche
Rechtsweſen zu achten. Das iſt die feſte und dauerhafte Grundlage alles
Völkerrechts. Würde es heute geläugnet und untergehen, ſo würde es
morgen wieder behauptet und neu begründet.

Bedenken gegen das Völkerrecht.

Trotzdem werden heute noch ſtarke Zweifel gegen die Exiſtenz des
Völkerrechts vielfältig geäußert. Die grundſätzlichen und die thatſächlichen
Bedenken, auf welche ſich jene Zweifel ſtützen, ſind in der That nicht
geringfügig. Sie fordern vielmehr zu ernſter Prüfung auf. Man wendet
ein, es fehle vorerſt an einer beglaubigten Ausſprache des Völkerrechts durch
das Geſetz, ſodann an einem wirkſamen Schutze deſſelben durch die Rechts-
pflege; und man erinnert daran, daß in dem Streite der Staten und
Völker der Entſcheid eher von der ſiegreichen Gewalt gegeben werde, als
von irgend einer Rechtsautorität. Man fragt dann: Wie kann ernſtlich
von Völkerrecht die Rede ſein, ohne ein Völkergeſetz, welches das Recht mit
Autorität verkündet, ohne ein Völkergericht, welches dieſes Recht in Rechts-
form handhabt, wenn die Macht ſchließlich allezeit den Ausſchlag giebt?

Wir können es nicht läugnen: Dieſe Bedenken haben ihren Grund
in großen Mängeln und ſchweren Gebrechen des Völkerrechts. Dennoch iſt
der Schluß, daß es kein Völkerrecht gebe, übereilt und verfehlt. Faſſen
wir dieſelben ſchärfer ins Auge.

1. Völkerrechtliche Geſetzgebung.

Wir ſind heute gewohnt, wenn irgend Fragen des Familienrechts,
des Erbrechts, des Vermögensrechts auftauchen, ein privatrechtliches Geſetz-

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[2/0024] Einleitung. die als rechtlich-nothwendig anerkannte Ordnung, welche die Beziehungen der Staten zu einander regelt. Die Staten aber d. h. die organiſirten Völker beſtehen aus Menſchen, und ſind ſelber als einheitliche Geſammt- weſen Perſonen, d. h. lebendige mit Willen begabte Rechtskörper, wie die Einzelmenſchen. Die Staten ſind wie die Einzelnen einerſeits indivi- duelle Weſen für ſich und andrerſeits Glieder der Menſchheit. Dieſelbe Menſchennatur, und demgemäß auch dieſelbe Rechtsnatur, die jedes Volk und jeder Stat in ſich hat, die findet er wieder in den andern Völkern und Staten. Sie verbindet alle Völker mit unwiderſtehlicher Nothwendigkeit. Keines kann ſich dieſer gemeinſamen Natur entäußern, keines dieſelbe in dem andern Volke verkennen. Deshalb ſind ſie alle durch ihre gemeinſame Menſchennatur verpflichtet, ſich wechſelſeitig als menſchliche Rechtsweſen zu achten. Das iſt die feſte und dauerhafte Grundlage alles Völkerrechts. Würde es heute geläugnet und untergehen, ſo würde es morgen wieder behauptet und neu begründet. Bedenken gegen das Völkerrecht. Trotzdem werden heute noch ſtarke Zweifel gegen die Exiſtenz des Völkerrechts vielfältig geäußert. Die grundſätzlichen und die thatſächlichen Bedenken, auf welche ſich jene Zweifel ſtützen, ſind in der That nicht geringfügig. Sie fordern vielmehr zu ernſter Prüfung auf. Man wendet ein, es fehle vorerſt an einer beglaubigten Ausſprache des Völkerrechts durch das Geſetz, ſodann an einem wirkſamen Schutze deſſelben durch die Rechts- pflege; und man erinnert daran, daß in dem Streite der Staten und Völker der Entſcheid eher von der ſiegreichen Gewalt gegeben werde, als von irgend einer Rechtsautorität. Man fragt dann: Wie kann ernſtlich von Völkerrecht die Rede ſein, ohne ein Völkergeſetz, welches das Recht mit Autorität verkündet, ohne ein Völkergericht, welches dieſes Recht in Rechts- form handhabt, wenn die Macht ſchließlich allezeit den Ausſchlag giebt? Wir können es nicht läugnen: Dieſe Bedenken haben ihren Grund in großen Mängeln und ſchweren Gebrechen des Völkerrechts. Dennoch iſt der Schluß, daß es kein Völkerrecht gebe, übereilt und verfehlt. Faſſen wir dieſelben ſchärfer ins Auge. 1. Völkerrechtliche Geſetzgebung. Wir ſind heute gewohnt, wenn irgend Fragen des Familienrechts, des Erbrechts, des Vermögensrechts auftauchen, ein privatrechtliches Geſetz-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/24>, abgerufen am 29.03.2024.