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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Einleitung.
buch nachzuschlagen und dort die Aufschlüsse über die geltenden Rechts-
grundsätze aufzusuchen, oder wenn ein Verbrechen verübt worden, nachzu-
sehen, mit welcher Strafe es in dem Strafgesetzbuch bedroht sei. Die
Fundamentalsätze des Statsrechts sind gewöhnlich in Verfassungsurkunden
öffentlich verkündet, und schon finden wir in einzelnen Staten, wie z. B.
in dem State New-York, eine Codification auch des öffentlichen Rechts.
Aber es giebt kein völkerrechtliches Gesetzbuch und nicht einmal einzelne
völkerrechtliche Gesetze, welche die Rechtsgrundsätze mit bindender Autorität
aussprechen, nach denen völkerrechtliche Streitfragen zu entscheiden sind. Da
meinen denn Manche, gewohnt alles Recht aus Gesetzen abzuleiten: "Ohne
Gesetze kein Recht."

Indessen sind die Gesetze nur der klarste und wirksamste Ausdruck,
aber keineswegs die einzige Quelle des Rechts. Bei allen Völkern gab es
eine Zeit, in der sie keine Gesetzbücher und dennoch ein geltendes Recht
hatten. In der Jugendperiode auch der Culturvölker gab es Ehen, Erb-
recht der Anverwandten, Eigenthum, Forderungen und Schulden ohne Ge-
setze, welche diese Rechtsverhältnisse ordneten und es wurden die Verbrechen
bestraft ohne Strafgesetz. Die in den nationalen Institutionen und in den
Volksgebräuchen und Uebungen dargestellte Rechtsordnung ist überall älter
als die gesetzlich bestimmte. Erst in dem reiferen und selbstbewußteren
Lebensalter der Völker unternimmt es der Stat, das Recht in Gesetzbüchern
auszusprechen. Es kann uns daher nicht befremden, wenn das noch junge
Völkerrecht vorerst ebenfalls in gewissen Einrichtungen, Gebräuchen und
Uebungen der Völker vornehmlich zu Tage tritt.

Für das Völkerrecht besteht aber in dieser Hinsicht eine eigenthüm-
liche Schwierigkeit. Mag das Verlangen nach einer klaren autoritativen
Verkündung völkerrechtlicher Gesetze noch so dringend geworden und die
geistige Fähigkeit zu solcher Aussprache noch so unzweifelhaft sein, so fehlt
es doch an einem anerkannten Gesetzgeber, der das Gesetz erlassen
könnte. In jedem einzelnen State ist durch die Statsverfassung für ein
Organ des allgemeinen Statswillens gesorgt, d. h. ein Gesetzgeber aner-
kannt. Aber wo wäre der Weltgesetzgeber zu finden, dessen Ausspruch alle
Staten und alle Nationen Folge leisteten? Die Einrichtung eines gesetz-
gebenden Körpers für die Welt, setzt die Organisation der Welt
voraus und eben diese besteht nicht.

Vielleicht wird die Zukunft dereinst die erhabene Idee verwirklichen
und der gesammten, in Völker und Staten getheilten Menschheit

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Einleitung.
buch nachzuſchlagen und dort die Aufſchlüſſe über die geltenden Rechts-
grundſätze aufzuſuchen, oder wenn ein Verbrechen verübt worden, nachzu-
ſehen, mit welcher Strafe es in dem Strafgeſetzbuch bedroht ſei. Die
Fundamentalſätze des Statsrechts ſind gewöhnlich in Verfaſſungsurkunden
öffentlich verkündet, und ſchon finden wir in einzelnen Staten, wie z. B.
in dem State New-York, eine Codification auch des öffentlichen Rechts.
Aber es giebt kein völkerrechtliches Geſetzbuch und nicht einmal einzelne
völkerrechtliche Geſetze, welche die Rechtsgrundſätze mit bindender Autorität
ausſprechen, nach denen völkerrechtliche Streitfragen zu entſcheiden ſind. Da
meinen denn Manche, gewohnt alles Recht aus Geſetzen abzuleiten: „Ohne
Geſetze kein Recht.“

Indeſſen ſind die Geſetze nur der klarſte und wirkſamſte Ausdruck,
aber keineswegs die einzige Quelle des Rechts. Bei allen Völkern gab es
eine Zeit, in der ſie keine Geſetzbücher und dennoch ein geltendes Recht
hatten. In der Jugendperiode auch der Culturvölker gab es Ehen, Erb-
recht der Anverwandten, Eigenthum, Forderungen und Schulden ohne Ge-
ſetze, welche dieſe Rechtsverhältniſſe ordneten und es wurden die Verbrechen
beſtraft ohne Strafgeſetz. Die in den nationalen Inſtitutionen und in den
Volksgebräuchen und Uebungen dargeſtellte Rechtsordnung iſt überall älter
als die geſetzlich beſtimmte. Erſt in dem reiferen und ſelbſtbewußteren
Lebensalter der Völker unternimmt es der Stat, das Recht in Geſetzbüchern
auszuſprechen. Es kann uns daher nicht befremden, wenn das noch junge
Völkerrecht vorerſt ebenfalls in gewiſſen Einrichtungen, Gebräuchen und
Uebungen der Völker vornehmlich zu Tage tritt.

Für das Völkerrecht beſteht aber in dieſer Hinſicht eine eigenthüm-
liche Schwierigkeit. Mag das Verlangen nach einer klaren autoritativen
Verkündung völkerrechtlicher Geſetze noch ſo dringend geworden und die
geiſtige Fähigkeit zu ſolcher Ausſprache noch ſo unzweifelhaft ſein, ſo fehlt
es doch an einem anerkannten Geſetzgeber, der das Geſetz erlaſſen
könnte. In jedem einzelnen State iſt durch die Statsverfaſſung für ein
Organ des allgemeinen Statswillens geſorgt, d. h. ein Geſetzgeber aner-
kannt. Aber wo wäre der Weltgeſetzgeber zu finden, deſſen Ausſpruch alle
Staten und alle Nationen Folge leiſteten? Die Einrichtung eines geſetz-
gebenden Körpers für die Welt, ſetzt die Organiſation der Welt
voraus und eben dieſe beſteht nicht.

Vielleicht wird die Zukunft dereinſt die erhabene Idee verwirklichen
und der geſammten, in Völker und Staten getheilten Menſchheit

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[3/0025] Einleitung. buch nachzuſchlagen und dort die Aufſchlüſſe über die geltenden Rechts- grundſätze aufzuſuchen, oder wenn ein Verbrechen verübt worden, nachzu- ſehen, mit welcher Strafe es in dem Strafgeſetzbuch bedroht ſei. Die Fundamentalſätze des Statsrechts ſind gewöhnlich in Verfaſſungsurkunden öffentlich verkündet, und ſchon finden wir in einzelnen Staten, wie z. B. in dem State New-York, eine Codification auch des öffentlichen Rechts. Aber es giebt kein völkerrechtliches Geſetzbuch und nicht einmal einzelne völkerrechtliche Geſetze, welche die Rechtsgrundſätze mit bindender Autorität ausſprechen, nach denen völkerrechtliche Streitfragen zu entſcheiden ſind. Da meinen denn Manche, gewohnt alles Recht aus Geſetzen abzuleiten: „Ohne Geſetze kein Recht.“ Indeſſen ſind die Geſetze nur der klarſte und wirkſamſte Ausdruck, aber keineswegs die einzige Quelle des Rechts. Bei allen Völkern gab es eine Zeit, in der ſie keine Geſetzbücher und dennoch ein geltendes Recht hatten. In der Jugendperiode auch der Culturvölker gab es Ehen, Erb- recht der Anverwandten, Eigenthum, Forderungen und Schulden ohne Ge- ſetze, welche dieſe Rechtsverhältniſſe ordneten und es wurden die Verbrechen beſtraft ohne Strafgeſetz. Die in den nationalen Inſtitutionen und in den Volksgebräuchen und Uebungen dargeſtellte Rechtsordnung iſt überall älter als die geſetzlich beſtimmte. Erſt in dem reiferen und ſelbſtbewußteren Lebensalter der Völker unternimmt es der Stat, das Recht in Geſetzbüchern auszuſprechen. Es kann uns daher nicht befremden, wenn das noch junge Völkerrecht vorerſt ebenfalls in gewiſſen Einrichtungen, Gebräuchen und Uebungen der Völker vornehmlich zu Tage tritt. Für das Völkerrecht beſteht aber in dieſer Hinſicht eine eigenthüm- liche Schwierigkeit. Mag das Verlangen nach einer klaren autoritativen Verkündung völkerrechtlicher Geſetze noch ſo dringend geworden und die geiſtige Fähigkeit zu ſolcher Ausſprache noch ſo unzweifelhaft ſein, ſo fehlt es doch an einem anerkannten Geſetzgeber, der das Geſetz erlaſſen könnte. In jedem einzelnen State iſt durch die Statsverfaſſung für ein Organ des allgemeinen Statswillens geſorgt, d. h. ein Geſetzgeber aner- kannt. Aber wo wäre der Weltgeſetzgeber zu finden, deſſen Ausſpruch alle Staten und alle Nationen Folge leiſteten? Die Einrichtung eines geſetz- gebenden Körpers für die Welt, ſetzt die Organiſation der Welt voraus und eben dieſe beſteht nicht. Vielleicht wird die Zukunft dereinſt die erhabene Idee verwirklichen und der geſammten, in Völker und Staten getheilten Menſchheit 1*

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/25>, abgerufen am 28.03.2024.