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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Sechstes Buch.
jeder Zeit aus religiösen Gründen kraft ihrer Gewissenspflicht von früheren
Verträgen sich loszusagen. Wenn das als ein selbstverständliches Recht der religiö-
sen Lebensgemeinschaft behauptet wird, weil die religiöse Gewissenspflicht sich nicht
durch äußere Rechtsformen dauernd binden läßt, so entspricht dem in derselben
Weise ein einseitiges Rücktritts- und Kündigungsrecht des Stats aus politischen
Gründen
und kraft seiner Pflicht, für das Volkswohl zu sorgen. Muß der Stat
der Kirche jene Freiheit gewähren, so kann die Kirche dem State nicht dieselbe Frei-
heit versagen; und es ist nur auf beiden Seiten bona fides zu verlangen. Ins-
besondere können Dinge wohl dauernd und fest rechtlich geordnet werden, welche der
religiösen Betrachtung als indifferent, oder doch als nicht durch die religiösen Pflich-
ten mit Nothwendigkeit bestimmt erscheinen, oder für die Existenz und Fortentwick-
lung des Stats nicht verderblich sind. Aber immer erscheint um solcher Rücksichten
willen die Rechtsverbindlichkeit solcher Concordate nur als eine einstweilige ge-
meinsame Regulirung
, welche zu wirken und zu binden aufhört, wenn eine
der beiden Vertragspersonen kündigt.

444.

Weder die ungleiche Macht und Stellung der paciscirenden Staten,
noch die ungleiche Belastung eines States zum Vortheil des andern ist ein
Hinderniß für die Gültigkeit der völkerrechtlichen Verträge.

1. Es können für's erste gültige Statenverträge auch zwischen einer Schutz-
macht
und einem schutzbedürftigen State, zwischen einem oberherrlichen
und
einem Vasallenstate, zwischen einem Gesammt- und einem Einzel-
state
geschlossen werden. Es wird zu völkerrechtlichem Vertragsrecht nicht Gleichheit
noch auch nur gleiche Unabhängigkeit der Staten vorausgesetzt.

2. Fürs zweite ist das Gleichgewicht der wechselseitigen Leistungen kein
nothwendiges Erforderniß der Statenverträge. Es ist möglich, daß der mächtigere
Stat schwerere Pflichten übernehme, als der schwächere, z. B. die militärische Schutz-
pflicht. Bedenklicher freilich ist es, wenn einem kleinen State von dem großen
schwere Leistungen zugemuthet werden, denen keine vertragsmäßige Gegenleistung
entspricht. Indessen auch das foedus iniquum ist ein rechtsgültiger
Vertrag
. Es kann darin die Nothwendigkeit der Lage sich richtig
darstellen.

445.

Dem Gegenstande nach sind die völkerrechtlichen Verträge so mannig-
faltig, als die Rechtsverhältnisse sind, in denen Staten mit Staten sich
befinden können.

Nur einzelne Anwendungen sind z. B. a) Grenzverträge, b) Verträge
über Abtretung von Statsgebiet, c) Successionsverträge über die Regie-

Sechstes Buch.
jeder Zeit aus religiöſen Gründen kraft ihrer Gewiſſenspflicht von früheren
Verträgen ſich loszuſagen. Wenn das als ein ſelbſtverſtändliches Recht der religiö-
ſen Lebensgemeinſchaft behauptet wird, weil die religiöſe Gewiſſenspflicht ſich nicht
durch äußere Rechtsformen dauernd binden läßt, ſo entſpricht dem in derſelben
Weiſe ein einſeitiges Rücktritts- und Kündigungsrecht des Stats aus politiſchen
Gründen
und kraft ſeiner Pflicht, für das Volkswohl zu ſorgen. Muß der Stat
der Kirche jene Freiheit gewähren, ſo kann die Kirche dem State nicht dieſelbe Frei-
heit verſagen; und es iſt nur auf beiden Seiten bona fides zu verlangen. Ins-
beſondere können Dinge wohl dauernd und feſt rechtlich geordnet werden, welche der
religiöſen Betrachtung als indifferent, oder doch als nicht durch die religiöſen Pflich-
ten mit Nothwendigkeit beſtimmt erſcheinen, oder für die Exiſtenz und Fortentwick-
lung des Stats nicht verderblich ſind. Aber immer erſcheint um ſolcher Rückſichten
willen die Rechtsverbindlichkeit ſolcher Concordate nur als eine einſtweilige ge-
meinſame Regulirung
, welche zu wirken und zu binden aufhört, wenn eine
der beiden Vertragsperſonen kündigt.

444.

Weder die ungleiche Macht und Stellung der paciſcirenden Staten,
noch die ungleiche Belaſtung eines States zum Vortheil des andern iſt ein
Hinderniß für die Gültigkeit der völkerrechtlichen Verträge.

1. Es können für’s erſte gültige Statenverträge auch zwiſchen einer Schutz-
macht
und einem ſchutzbedürftigen State, zwiſchen einem oberherrlichen
und
einem Vaſallenſtate, zwiſchen einem Geſammt- und einem Einzel-
ſtate
geſchloſſen werden. Es wird zu völkerrechtlichem Vertragsrecht nicht Gleichheit
noch auch nur gleiche Unabhängigkeit der Staten vorausgeſetzt.

2. Fürs zweite iſt das Gleichgewicht der wechſelſeitigen Leiſtungen kein
nothwendiges Erforderniß der Statenverträge. Es iſt möglich, daß der mächtigere
Stat ſchwerere Pflichten übernehme, als der ſchwächere, z. B. die militäriſche Schutz-
pflicht. Bedenklicher freilich iſt es, wenn einem kleinen State von dem großen
ſchwere Leiſtungen zugemuthet werden, denen keine vertragsmäßige Gegenleiſtung
entſpricht. Indeſſen auch das foedus iniquum iſt ein rechtsgültiger
Vertrag
. Es kann darin die Nothwendigkeit der Lage ſich richtig
darſtellen.

445.

Dem Gegenſtande nach ſind die völkerrechtlichen Verträge ſo mannig-
faltig, als die Rechtsverhältniſſe ſind, in denen Staten mit Staten ſich
befinden können.

Nur einzelne Anwendungen ſind z. B. a) Grenzverträge, b) Verträge
über Abtretung von Statsgebiet, c) Succeſſionsverträge über die Regie-

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[250/0272] Sechstes Buch. jeder Zeit aus religiöſen Gründen kraft ihrer Gewiſſenspflicht von früheren Verträgen ſich loszuſagen. Wenn das als ein ſelbſtverſtändliches Recht der religiö- ſen Lebensgemeinſchaft behauptet wird, weil die religiöſe Gewiſſenspflicht ſich nicht durch äußere Rechtsformen dauernd binden läßt, ſo entſpricht dem in derſelben Weiſe ein einſeitiges Rücktritts- und Kündigungsrecht des Stats aus politiſchen Gründen und kraft ſeiner Pflicht, für das Volkswohl zu ſorgen. Muß der Stat der Kirche jene Freiheit gewähren, ſo kann die Kirche dem State nicht dieſelbe Frei- heit verſagen; und es iſt nur auf beiden Seiten bona fides zu verlangen. Ins- beſondere können Dinge wohl dauernd und feſt rechtlich geordnet werden, welche der religiöſen Betrachtung als indifferent, oder doch als nicht durch die religiöſen Pflich- ten mit Nothwendigkeit beſtimmt erſcheinen, oder für die Exiſtenz und Fortentwick- lung des Stats nicht verderblich ſind. Aber immer erſcheint um ſolcher Rückſichten willen die Rechtsverbindlichkeit ſolcher Concordate nur als eine einſtweilige ge- meinſame Regulirung, welche zu wirken und zu binden aufhört, wenn eine der beiden Vertragsperſonen kündigt. 444. Weder die ungleiche Macht und Stellung der paciſcirenden Staten, noch die ungleiche Belaſtung eines States zum Vortheil des andern iſt ein Hinderniß für die Gültigkeit der völkerrechtlichen Verträge. 1. Es können für’s erſte gültige Statenverträge auch zwiſchen einer Schutz- macht und einem ſchutzbedürftigen State, zwiſchen einem oberherrlichen und einem Vaſallenſtate, zwiſchen einem Geſammt- und einem Einzel- ſtate geſchloſſen werden. Es wird zu völkerrechtlichem Vertragsrecht nicht Gleichheit noch auch nur gleiche Unabhängigkeit der Staten vorausgeſetzt. 2. Fürs zweite iſt das Gleichgewicht der wechſelſeitigen Leiſtungen kein nothwendiges Erforderniß der Statenverträge. Es iſt möglich, daß der mächtigere Stat ſchwerere Pflichten übernehme, als der ſchwächere, z. B. die militäriſche Schutz- pflicht. Bedenklicher freilich iſt es, wenn einem kleinen State von dem großen ſchwere Leiſtungen zugemuthet werden, denen keine vertragsmäßige Gegenleiſtung entſpricht. Indeſſen auch das foedus iniquum iſt ein rechtsgültiger Vertrag. Es kann darin die Nothwendigkeit der Lage ſich richtig darſtellen. 445. Dem Gegenſtande nach ſind die völkerrechtlichen Verträge ſo mannig- faltig, als die Rechtsverhältniſſe ſind, in denen Staten mit Staten ſich befinden können. Nur einzelne Anwendungen ſind z. B. a) Grenzverträge, b) Verträge über Abtretung von Statsgebiet, c) Succeſſionsverträge über die Regie-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/272>, abgerufen am 19.04.2024.