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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Völkerrechtliche Verträge.
454.

Durch einseitige Kündigung einer Vertragspartei wird der Vertrag
nur dann beendigt, wenn entweder das Recht freier Kündigung vorbehal-
ten worden ist, oder wenn sich aus den Umständen ein Recht zur Kündi-
gung ergibt.

Die Natur des öffentlichen Rechts nöthigt dazu, in manchen Fällen ein
Recht zur Kündigung
anzunehmen, wo ein solches nicht vorbehalten worden ist.
Bei den Statenverträgen ist die Wohlfahrt der langlebigen Völker betheiligt, und es
darf nicht ein Geschlecht die folgenden Geschlechter für alle Zukunft binden. Wenn
gleich die jeweiligen Repräsentanten eines States diesen selbst und auf die Dauer
durch ihre Erklärungen verpflichten können, so muß man sich doch daran erinnern,
daß dieses Repräsentativrecht kein absolutes ist, und daß die Repräsentanten von
heute weder die Einsicht noch die Macht haben, die öffentlichen Zustände für die
Ewigkeit
zu ordnen. Ein Beispiel eines solchen selbstverständlichen Kündigungs-
rechts siehe oben § 443, andere in den folgenden Artikeln.

455.

Wenn eine Vertragspartei ihre Verbindlichkeiten nicht erfüllt, oder
die Vertragstreue bricht, so ist die verletzte Partei zum Rücktritt von dem
Vertrage berechtigt.

In dem gewohnten Vertragsrechte der Privatverträge findet sich diese Regel
nur ausnahmsweise. Die Nichterfüllung begründet dort zunächst eine Klage des Ver-
letzten auf Erfüllung, aber nur in wenigen Vertragsacten den freien Rück-
tritt
oder die Kündigung desselben. Aber im Völkerrecht muß jene Regel an-
erkannt werden, schon weil es da an einem Richter fehlt, welcher den säumigen Theil
zur Erfüllung nöthigt, und die Selbsthülfe durch Krieg in allen Fällen bedenklich,
in vielen unthunlich und unwirksam ist.

456.

Wenn die thatsächlichen Zustände, welche die ausdrückliche oder still-
schweigende Voraussetzung und Grundlage der übernommenen Vertrags-
pflicht gewesen sind, sich im Laufe der Zeit in dem Maße ändern, daß
die Erfüllung der Vertragsverbindlichkeit unnatürlich oder sinnlos geworden
ist, so erlischt solche Verbindlichkeit.

Zu weit gehen einzelne Völkerrechtslehrer, wenn sie behaupten, daß die Clau-
sel: "rebus sic stantibus" stillschweigend allen Verträgen der Staten beigefügt

Völkerrechtliche Verträge.
454.

Durch einſeitige Kündigung einer Vertragspartei wird der Vertrag
nur dann beendigt, wenn entweder das Recht freier Kündigung vorbehal-
ten worden iſt, oder wenn ſich aus den Umſtänden ein Recht zur Kündi-
gung ergibt.

Die Natur des öffentlichen Rechts nöthigt dazu, in manchen Fällen ein
Recht zur Kündigung
anzunehmen, wo ein ſolches nicht vorbehalten worden iſt.
Bei den Statenverträgen iſt die Wohlfahrt der langlebigen Völker betheiligt, und es
darf nicht ein Geſchlecht die folgenden Geſchlechter für alle Zukunft binden. Wenn
gleich die jeweiligen Repräſentanten eines States dieſen ſelbſt und auf die Dauer
durch ihre Erklärungen verpflichten können, ſo muß man ſich doch daran erinnern,
daß dieſes Repräſentativrecht kein abſolutes iſt, und daß die Repräſentanten von
heute weder die Einſicht noch die Macht haben, die öffentlichen Zuſtände für die
Ewigkeit
zu ordnen. Ein Beiſpiel eines ſolchen ſelbſtverſtändlichen Kündigungs-
rechts ſiehe oben § 443, andere in den folgenden Artikeln.

455.

Wenn eine Vertragspartei ihre Verbindlichkeiten nicht erfüllt, oder
die Vertragstreue bricht, ſo iſt die verletzte Partei zum Rücktritt von dem
Vertrage berechtigt.

In dem gewohnten Vertragsrechte der Privatverträge findet ſich dieſe Regel
nur ausnahmsweiſe. Die Nichterfüllung begründet dort zunächſt eine Klage des Ver-
letzten auf Erfüllung, aber nur in wenigen Vertragsacten den freien Rück-
tritt
oder die Kündigung desſelben. Aber im Völkerrecht muß jene Regel an-
erkannt werden, ſchon weil es da an einem Richter fehlt, welcher den ſäumigen Theil
zur Erfüllung nöthigt, und die Selbſthülfe durch Krieg in allen Fällen bedenklich,
in vielen unthunlich und unwirkſam iſt.

456.

Wenn die thatſächlichen Zuſtände, welche die ausdrückliche oder ſtill-
ſchweigende Vorausſetzung und Grundlage der übernommenen Vertrags-
pflicht geweſen ſind, ſich im Laufe der Zeit in dem Maße ändern, daß
die Erfüllung der Vertragsverbindlichkeit unnatürlich oder ſinnlos geworden
iſt, ſo erliſcht ſolche Verbindlichkeit.

Zu weit gehen einzelne Völkerrechtslehrer, wenn ſie behaupten, daß die Clau-
ſel: „rebus sic stantibus“ ſtillſchweigend allen Verträgen der Staten beigefügt

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[255/0277] Völkerrechtliche Verträge. 454. Durch einſeitige Kündigung einer Vertragspartei wird der Vertrag nur dann beendigt, wenn entweder das Recht freier Kündigung vorbehal- ten worden iſt, oder wenn ſich aus den Umſtänden ein Recht zur Kündi- gung ergibt. Die Natur des öffentlichen Rechts nöthigt dazu, in manchen Fällen ein Recht zur Kündigung anzunehmen, wo ein ſolches nicht vorbehalten worden iſt. Bei den Statenverträgen iſt die Wohlfahrt der langlebigen Völker betheiligt, und es darf nicht ein Geſchlecht die folgenden Geſchlechter für alle Zukunft binden. Wenn gleich die jeweiligen Repräſentanten eines States dieſen ſelbſt und auf die Dauer durch ihre Erklärungen verpflichten können, ſo muß man ſich doch daran erinnern, daß dieſes Repräſentativrecht kein abſolutes iſt, und daß die Repräſentanten von heute weder die Einſicht noch die Macht haben, die öffentlichen Zuſtände für die Ewigkeit zu ordnen. Ein Beiſpiel eines ſolchen ſelbſtverſtändlichen Kündigungs- rechts ſiehe oben § 443, andere in den folgenden Artikeln. 455. Wenn eine Vertragspartei ihre Verbindlichkeiten nicht erfüllt, oder die Vertragstreue bricht, ſo iſt die verletzte Partei zum Rücktritt von dem Vertrage berechtigt. In dem gewohnten Vertragsrechte der Privatverträge findet ſich dieſe Regel nur ausnahmsweiſe. Die Nichterfüllung begründet dort zunächſt eine Klage des Ver- letzten auf Erfüllung, aber nur in wenigen Vertragsacten den freien Rück- tritt oder die Kündigung desſelben. Aber im Völkerrecht muß jene Regel an- erkannt werden, ſchon weil es da an einem Richter fehlt, welcher den ſäumigen Theil zur Erfüllung nöthigt, und die Selbſthülfe durch Krieg in allen Fällen bedenklich, in vielen unthunlich und unwirkſam iſt. 456. Wenn die thatſächlichen Zuſtände, welche die ausdrückliche oder ſtill- ſchweigende Vorausſetzung und Grundlage der übernommenen Vertrags- pflicht geweſen ſind, ſich im Laufe der Zeit in dem Maße ändern, daß die Erfüllung der Vertragsverbindlichkeit unnatürlich oder ſinnlos geworden iſt, ſo erliſcht ſolche Verbindlichkeit. Zu weit gehen einzelne Völkerrechtslehrer, wenn ſie behaupten, daß die Clau- ſel: „rebus sic stantibus“ ſtillſchweigend allen Verträgen der Staten beigefügt

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/277>, abgerufen am 25.04.2024.