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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Achtes Buch.
2. Wirkungen des Kriegszustandes im Allgemeinen. Kriegsziel.
529.

Die Kriegseröffnung hebt die Rechtsordnung nicht auf, auch nicht
im Verhältniß der kriegführenden Staten zu einander.

Aber sie übt die Rechtsordnung verändernde Wirkungen aus

a) im Verhältniß der Staten, welche Krieg führen zu einander und
zu ihren Bundesgenossen,
b) im Verhältniß zu den neutralen Staten,
c) mit Rücksicht auf die Angehörigen der Kriegsparteien oder die
Bewohner des Kriegsfeldes.

1. Die ältere naturrechtliche Vorstellung bildete sich einen rechtlosen Natur-
zustand
ein, welcher aller Statenbildung vorausgehe, in welchem die
Menschen wie die Thiere weder eigene Rechte haben, noch Rechte andern Menschen
zugestehen, und Jeder so weit seinen Willen geltend mache, als er die physische Macht
besitze. Die alten Naturrechtslehrer meinten, nur durch Friedens- und Gesellschafts-
verträge werde dieser Zustand eines bellum omnium contra omnes, des allgemeinen
Krieges Aller miteinander beschränkt und ein vertragsmäßiger Rechtszustand
eingeführt und sie behaupteten, wenn nun die Staten wider einander den Krieg
erklären, so bedeute das Rückkehr in jenen ursprünglichen völlig rechtlosen Kriegs-
zustand. Sie nahmen in Folge dessen an, im Krieg werden keine Rechte mehr
anerkannt, sondern herrsche nur die physische Gewalt. Diese ganze Ansicht wird von
der heutigen Rechtswissenschaft als Irrthum verworfen.

2. Im Gegentheil, wir erkennen an, daß es natürliche Menschenrechte
gibt, die im Krieg wie im Frieden zu beachten sind, und daß die Rechtsordnung der
Welt und der einzelnen Völker in einer steten geschichtlichen Entwicklung
begriffen ist, welche nicht auf einmal durch einen Völkerstreit abgebrochen und gänzlich
zerstört werden kann. So wenig die Sprache und die Civilisation einer Nation in
Folge einer Kriegserklärung plötzlich verschwindet und in die ursprüngliche Roheit
und Barbarei zurücksinkt, ebenso wenig kann die Rechtscultur, das Erzeugniß
einer Arbeit von Jahrhunderten
auf einmal wieder erlöschen und ein Zu-
stand völliger Rechtlosigkeit an seine Stelle treten. Da der Krieg wesentlich Rechts-
hülfe
ist, so darf er nicht die Rechtsordnung verneinen, welcher er
dienen will
.

3. Die Rechtsordnung im Ganzen bleibt also unversehrt. Aber weil der Krieg
einen Nothstand theils voraussetzt, theils herbeiführt, übt er eine Reihe von Wirkun-
gen aus, welche das bestehende Recht theilweise suspendiren, theil-
weise abändern
. Es tritt nun ein eigenthümliches Kriegsrecht ein,
welches als Ausnahmerecht das regelmäßige Friedensrecht modificirt.

Achtes Buch.
2. Wirkungen des Kriegszuſtandes im Allgemeinen. Kriegsziel.
529.

Die Kriegseröffnung hebt die Rechtsordnung nicht auf, auch nicht
im Verhältniß der kriegführenden Staten zu einander.

Aber ſie übt die Rechtsordnung verändernde Wirkungen aus

a) im Verhältniß der Staten, welche Krieg führen zu einander und
zu ihren Bundesgenoſſen,
b) im Verhältniß zu den neutralen Staten,
c) mit Rückſicht auf die Angehörigen der Kriegsparteien oder die
Bewohner des Kriegsfeldes.

1. Die ältere naturrechtliche Vorſtellung bildete ſich einen rechtloſen Natur-
zuſtand
ein, welcher aller Statenbildung vorausgehe, in welchem die
Menſchen wie die Thiere weder eigene Rechte haben, noch Rechte andern Menſchen
zugeſtehen, und Jeder ſo weit ſeinen Willen geltend mache, als er die phyſiſche Macht
beſitze. Die alten Naturrechtslehrer meinten, nur durch Friedens- und Geſellſchafts-
verträge werde dieſer Zuſtand eines bellum omnium contra omnes, des allgemeinen
Krieges Aller miteinander beſchränkt und ein vertragsmäßiger Rechtszuſtand
eingeführt und ſie behaupteten, wenn nun die Staten wider einander den Krieg
erklären, ſo bedeute das Rückkehr in jenen urſprünglichen völlig rechtloſen Kriegs-
zuſtand. Sie nahmen in Folge deſſen an, im Krieg werden keine Rechte mehr
anerkannt, ſondern herrſche nur die phyſiſche Gewalt. Dieſe ganze Anſicht wird von
der heutigen Rechtswiſſenſchaft als Irrthum verworfen.

2. Im Gegentheil, wir erkennen an, daß es natürliche Menſchenrechte
gibt, die im Krieg wie im Frieden zu beachten ſind, und daß die Rechtsordnung der
Welt und der einzelnen Völker in einer ſteten geſchichtlichen Entwicklung
begriffen iſt, welche nicht auf einmal durch einen Völkerſtreit abgebrochen und gänzlich
zerſtört werden kann. So wenig die Sprache und die Civiliſation einer Nation in
Folge einer Kriegserklärung plötzlich verſchwindet und in die urſprüngliche Roheit
und Barbarei zurückſinkt, ebenſo wenig kann die Rechtscultur, das Erzeugniß
einer Arbeit von Jahrhunderten
auf einmal wieder erlöſchen und ein Zu-
ſtand völliger Rechtloſigkeit an ſeine Stelle treten. Da der Krieg weſentlich Rechts-
hülfe
iſt, ſo darf er nicht die Rechtsordnung verneinen, welcher er
dienen will
.

3. Die Rechtsordnung im Ganzen bleibt alſo unverſehrt. Aber weil der Krieg
einen Nothſtand theils vorausſetzt, theils herbeiführt, übt er eine Reihe von Wirkun-
gen aus, welche das beſtehende Recht theilweiſe ſuspendiren, theil-
weiſe abändern
. Es tritt nun ein eigenthümliches Kriegsrecht ein,
welches als Ausnahmerecht das regelmäßige Friedensrecht modificirt.

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[296/0318] Achtes Buch. 2. Wirkungen des Kriegszuſtandes im Allgemeinen. Kriegsziel. 529. Die Kriegseröffnung hebt die Rechtsordnung nicht auf, auch nicht im Verhältniß der kriegführenden Staten zu einander. Aber ſie übt die Rechtsordnung verändernde Wirkungen aus a) im Verhältniß der Staten, welche Krieg führen zu einander und zu ihren Bundesgenoſſen, b) im Verhältniß zu den neutralen Staten, c) mit Rückſicht auf die Angehörigen der Kriegsparteien oder die Bewohner des Kriegsfeldes. 1. Die ältere naturrechtliche Vorſtellung bildete ſich einen rechtloſen Natur- zuſtand ein, welcher aller Statenbildung vorausgehe, in welchem die Menſchen wie die Thiere weder eigene Rechte haben, noch Rechte andern Menſchen zugeſtehen, und Jeder ſo weit ſeinen Willen geltend mache, als er die phyſiſche Macht beſitze. Die alten Naturrechtslehrer meinten, nur durch Friedens- und Geſellſchafts- verträge werde dieſer Zuſtand eines bellum omnium contra omnes, des allgemeinen Krieges Aller miteinander beſchränkt und ein vertragsmäßiger Rechtszuſtand eingeführt und ſie behaupteten, wenn nun die Staten wider einander den Krieg erklären, ſo bedeute das Rückkehr in jenen urſprünglichen völlig rechtloſen Kriegs- zuſtand. Sie nahmen in Folge deſſen an, im Krieg werden keine Rechte mehr anerkannt, ſondern herrſche nur die phyſiſche Gewalt. Dieſe ganze Anſicht wird von der heutigen Rechtswiſſenſchaft als Irrthum verworfen. 2. Im Gegentheil, wir erkennen an, daß es natürliche Menſchenrechte gibt, die im Krieg wie im Frieden zu beachten ſind, und daß die Rechtsordnung der Welt und der einzelnen Völker in einer ſteten geſchichtlichen Entwicklung begriffen iſt, welche nicht auf einmal durch einen Völkerſtreit abgebrochen und gänzlich zerſtört werden kann. So wenig die Sprache und die Civiliſation einer Nation in Folge einer Kriegserklärung plötzlich verſchwindet und in die urſprüngliche Roheit und Barbarei zurückſinkt, ebenſo wenig kann die Rechtscultur, das Erzeugniß einer Arbeit von Jahrhunderten auf einmal wieder erlöſchen und ein Zu- ſtand völliger Rechtloſigkeit an ſeine Stelle treten. Da der Krieg weſentlich Rechts- hülfe iſt, ſo darf er nicht die Rechtsordnung verneinen, welcher er dienen will. 3. Die Rechtsordnung im Ganzen bleibt alſo unverſehrt. Aber weil der Krieg einen Nothſtand theils vorausſetzt, theils herbeiführt, übt er eine Reihe von Wirkun- gen aus, welche das beſtehende Recht theilweiſe ſuspendiren, theil- weiſe abändern. Es tritt nun ein eigenthümliches Kriegsrecht ein, welches als Ausnahmerecht das regelmäßige Friedensrecht modificirt.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/318>, abgerufen am 23.04.2024.