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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Einleitung.
ligion, Sprache und Cultur hat in den Hellenen aller Städte das Gefühl
nationaler Gemeinschaft und Verwandtschaft geweckt. In Folge davon
wurde die in eine große Anzahl selbständiger Städte und Staten getheilte
Nation doch auch einer gewissen Rechtsgemeinschaft inne. "Alle Hellenen
sind Brüder", sagte man und erkannte an, daß jeder hellenische Stat dem
andern gegenüber gewisse Rechtsgrundsätze zu beachten verpflichtet sei. Aber
die nicht hellenischen, die sogenannten barbarischen Völker betrachteten sie
noch als "ihre natürlichen Feinde", mit denen keine Rechtsgemeinschaft be-
stehe. Der Krieg mit den Barbaren erschien ihnen als die natürliche
Regel und jede List oder Gewalt gegen die Barbaren als erlaubt. Sie
wiesen die Gleichberechtigung der Barbarenstaten noch mit Verachtung von
sich, und hielten sich als die edlere Rasse für berufen, über die Barbaren
zu herrschen. Das war nicht etwa nur die Meinung der eiteln und
selbstsüchtigen Menge, es war das ebenso die Meinung der berühmten
Philosophen Platon und Aristoteles.

Die Römer sind als die weltgeschichtlichen Begründer des von Re-
ligion und Moral unterschiedenen Rechts und der Rechtswissenschaft an-
erkannt. Aber auch den Römern verdankt die Welt noch nicht die erste
allgemeine Feststellung des Völkerrechts. Freilich sind in dem alten Rom
auch vortreffliche Anfänge eines civilisirten Völkerrechts zu entdecken. Be-
vor die Römer einen fremden Stat mit Krieg überzogen, pflegten sie ihre
Forderungen in Rechtsform durch ihre Gesandte, die Fecialen, anzumelden
und, wenn nicht willfahrt wurde, den Krieg feierlich anzukünden. Sie
kannten und übten mancherlei Formen der Statsverträge und Bündnisse
mit andern Staten. Obwohl sie während des Kriegs schonungslos und
grausam verfuhren, so pflegten sie doch die Religion, die Sitten und theil-
weise sogar das Recht der unterthänig gewordenen Völker zu schützen. Sie
erhoben sich sogar zu der Idee der Humanität, als der großen Aufgabe
ihrer Politik und faßten die Welt als Ein Ganzes in weitgreifendem Ge-
danken zusammen. Aber alle diese Keime entwickelten sich doch nicht zu
einem humanen Völker- und Weltrecht, weil der Sinn der Römer nicht
auf Rechtsgemeinschaft unter den Völkern, sondern auf absolute Herr-
schaft Roms über die Völker
gerichtet war. Die absolute Weltherrschaft
Eines Volkes aber ist die Verneinung des Völkerrechts im Princip.

Wir sehen, die Eitelkeit, der Stolz, die Selbstsucht und die Herrsch-
sucht der einzelnen Völker verhinderten im Alterthum das Wachsthum des
Völkerrechts und zerstörten die noch schwachen Keime, bevor sie erstarkt

Einleitung.
ligion, Sprache und Cultur hat in den Hellenen aller Städte das Gefühl
nationaler Gemeinſchaft und Verwandtſchaft geweckt. In Folge davon
wurde die in eine große Anzahl ſelbſtändiger Städte und Staten getheilte
Nation doch auch einer gewiſſen Rechtsgemeinſchaft inne. „Alle Hellenen
ſind Brüder“, ſagte man und erkannte an, daß jeder helleniſche Stat dem
andern gegenüber gewiſſe Rechtsgrundſätze zu beachten verpflichtet ſei. Aber
die nicht helleniſchen, die ſogenannten barbariſchen Völker betrachteten ſie
noch als „ihre natürlichen Feinde“, mit denen keine Rechtsgemeinſchaft be-
ſtehe. Der Krieg mit den Barbaren erſchien ihnen als die natürliche
Regel und jede Liſt oder Gewalt gegen die Barbaren als erlaubt. Sie
wieſen die Gleichberechtigung der Barbarenſtaten noch mit Verachtung von
ſich, und hielten ſich als die edlere Raſſe für berufen, über die Barbaren
zu herrſchen. Das war nicht etwa nur die Meinung der eiteln und
ſelbſtſüchtigen Menge, es war das ebenſo die Meinung der berühmten
Philoſophen Platon und Ariſtoteles.

Die Römer ſind als die weltgeſchichtlichen Begründer des von Re-
ligion und Moral unterſchiedenen Rechts und der Rechtswiſſenſchaft an-
erkannt. Aber auch den Römern verdankt die Welt noch nicht die erſte
allgemeine Feſtſtellung des Völkerrechts. Freilich ſind in dem alten Rom
auch vortreffliche Anfänge eines civiliſirten Völkerrechts zu entdecken. Be-
vor die Römer einen fremden Stat mit Krieg überzogen, pflegten ſie ihre
Forderungen in Rechtsform durch ihre Geſandte, die Fecialen, anzumelden
und, wenn nicht willfahrt wurde, den Krieg feierlich anzukünden. Sie
kannten und übten mancherlei Formen der Statsverträge und Bündniſſe
mit andern Staten. Obwohl ſie während des Kriegs ſchonungslos und
grauſam verfuhren, ſo pflegten ſie doch die Religion, die Sitten und theil-
weiſe ſogar das Recht der unterthänig gewordenen Völker zu ſchützen. Sie
erhoben ſich ſogar zu der Idee der Humanität, als der großen Aufgabe
ihrer Politik und faßten die Welt als Ein Ganzes in weitgreifendem Ge-
danken zuſammen. Aber alle dieſe Keime entwickelten ſich doch nicht zu
einem humanen Völker- und Weltrecht, weil der Sinn der Römer nicht
auf Rechtsgemeinſchaft unter den Völkern, ſondern auf abſolute Herr-
ſchaft Roms über die Völker
gerichtet war. Die abſolute Weltherrſchaft
Eines Volkes aber iſt die Verneinung des Völkerrechts im Princip.

Wir ſehen, die Eitelkeit, der Stolz, die Selbſtſucht und die Herrſch-
ſucht der einzelnen Völker verhinderten im Alterthum das Wachsthum des
Völkerrechts und zerſtörten die noch ſchwachen Keime, bevor ſie erſtarkt

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[11/0033] Einleitung. ligion, Sprache und Cultur hat in den Hellenen aller Städte das Gefühl nationaler Gemeinſchaft und Verwandtſchaft geweckt. In Folge davon wurde die in eine große Anzahl ſelbſtändiger Städte und Staten getheilte Nation doch auch einer gewiſſen Rechtsgemeinſchaft inne. „Alle Hellenen ſind Brüder“, ſagte man und erkannte an, daß jeder helleniſche Stat dem andern gegenüber gewiſſe Rechtsgrundſätze zu beachten verpflichtet ſei. Aber die nicht helleniſchen, die ſogenannten barbariſchen Völker betrachteten ſie noch als „ihre natürlichen Feinde“, mit denen keine Rechtsgemeinſchaft be- ſtehe. Der Krieg mit den Barbaren erſchien ihnen als die natürliche Regel und jede Liſt oder Gewalt gegen die Barbaren als erlaubt. Sie wieſen die Gleichberechtigung der Barbarenſtaten noch mit Verachtung von ſich, und hielten ſich als die edlere Raſſe für berufen, über die Barbaren zu herrſchen. Das war nicht etwa nur die Meinung der eiteln und ſelbſtſüchtigen Menge, es war das ebenſo die Meinung der berühmten Philoſophen Platon und Ariſtoteles. Die Römer ſind als die weltgeſchichtlichen Begründer des von Re- ligion und Moral unterſchiedenen Rechts und der Rechtswiſſenſchaft an- erkannt. Aber auch den Römern verdankt die Welt noch nicht die erſte allgemeine Feſtſtellung des Völkerrechts. Freilich ſind in dem alten Rom auch vortreffliche Anfänge eines civiliſirten Völkerrechts zu entdecken. Be- vor die Römer einen fremden Stat mit Krieg überzogen, pflegten ſie ihre Forderungen in Rechtsform durch ihre Geſandte, die Fecialen, anzumelden und, wenn nicht willfahrt wurde, den Krieg feierlich anzukünden. Sie kannten und übten mancherlei Formen der Statsverträge und Bündniſſe mit andern Staten. Obwohl ſie während des Kriegs ſchonungslos und grauſam verfuhren, ſo pflegten ſie doch die Religion, die Sitten und theil- weiſe ſogar das Recht der unterthänig gewordenen Völker zu ſchützen. Sie erhoben ſich ſogar zu der Idee der Humanität, als der großen Aufgabe ihrer Politik und faßten die Welt als Ein Ganzes in weitgreifendem Ge- danken zuſammen. Aber alle dieſe Keime entwickelten ſich doch nicht zu einem humanen Völker- und Weltrecht, weil der Sinn der Römer nicht auf Rechtsgemeinſchaft unter den Völkern, ſondern auf abſolute Herr- ſchaft Roms über die Völker gerichtet war. Die abſolute Weltherrſchaft Eines Volkes aber iſt die Verneinung des Völkerrechts im Princip. Wir ſehen, die Eitelkeit, der Stolz, die Selbſtſucht und die Herrſch- ſucht der einzelnen Völker verhinderten im Alterthum das Wachsthum des Völkerrechts und zerſtörten die noch ſchwachen Keime, bevor ſie erſtarkt

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/33>, abgerufen am 19.04.2024.