Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Achtes Buch.
Statsverbandes dauert im Kriege einstweilen noch fort, wenn gleich die rechtliche
Autorität
der bisherigen Statsgewalt durch die feindliche Besetzung unterbrochen
und gehemmt ist. Es ist daher unnatürlich, unsittlich und widerrechtlich, den Stats-
angehörigen zuzumuthen, daß sie nun auch activ gegen den Stat feindlich auftreten,
den sie noch als ihr rechtmäßiges Vaterland betrachten dürfen. Es war daher völker-
rechtswidrig, als die englische Marine nach der Lostrennung der Vereinigten Staten
noch amerikanische Matrosen weggenommener amerikanischer Schiffe zwingen wollte,
auf englischen Kriegsschiffen zu dienen. (Vgl. Laboulaye hist. des Etats-Unis II.
p.
307.) Wenn sich Freiwillige aus dem eingenommenen Lande an das Heer
des Siegers anschließen, so ist das eine ganz andere Sache.

2. Ist aber die Eroberung vollzogen und die Souveränetät auf den
Sieger übergegangen, dann tritt das regelmäßige Unterordnungsverhältniß unter die
neue Statsgewalt auch in militärischer Hinsicht ein; und die gesetzliche Kriegs-
pflicht
wird auf die Bewohner des neu erworbenen Gebietes ausgedehnt, ohne
Rücksicht auf die frühere Statsgenossenschaft derselben.

577.

Die Religion und die Sprache, die Bildung und die Ehre der be-
siegten Feinde und der unterworfenen Privatpersonen sind, so weit es die
Umstände erlauben, zu schonen und wider Vergewaltigung zu schützen.

Am. 37. Auch darin besteht ein großer Fortschritt des modernen Völker-
rechts gegenüber den Anschauungen des Mittelalters und den rohen Sitten, die noch
im vorigen Jahrhundert in Europa geübt wurden. Die Unterdrückung des
Cultus mit feindlicher Gewalt ist Barbarei, es wäre denn, daß dieser Cultus
selbst die Menschenrechte und die Gesetze der Sittlichkeit verletzte. Wie zähe die
bittern Erinnerungen an die Gräuel des dreißigjährigen Kriegs sich in Deutschland
erhalten haben, und wie schädlich die neuen Lehren ultramontaner Verketzerungssucht
fortwirken, hat der deutsche Krieg des Jahres 1866 gezeigt. In vielen süddeutschen Land-
gemeinden fürchteten die Protestanten eine neue Verfolgung ihrer Religion durch fanati-
sirte Katholiken und umgekehrt waren manche katholische Gemeinden ganz erstaunt, als
die siegreichen Preußen ihren Gottesdienst mit Achtung behandelten. Erst bei den
gebildeten Classen und bei den Regierungen hat der humane Grundsatz eine sichere
Stätte gefunden, bedarf aber auch da noch einer weitern Ausbildung, insbesondere
mit Rücksicht auf die Culturinteressen der unterworfenen Bevölkerung.

578.

Die bewaffneten Feinde sind den unvermeidlichen Gefahren des
Kampfes überhaupt ausgesetzt und können auch im Einzelnkampf mit Recht
verwundet, verstümmelt, getödtet werden. Die sogenannten Nichtkämpfer
im Heere (Justiz- und Verpflegungsbeamte, Feldgeistliche, Aerzte, Marke-

Achtes Buch.
Statsverbandes dauert im Kriege einſtweilen noch fort, wenn gleich die rechtliche
Autorität
der bisherigen Statsgewalt durch die feindliche Beſetzung unterbrochen
und gehemmt iſt. Es iſt daher unnatürlich, unſittlich und widerrechtlich, den Stats-
angehörigen zuzumuthen, daß ſie nun auch activ gegen den Stat feindlich auftreten,
den ſie noch als ihr rechtmäßiges Vaterland betrachten dürfen. Es war daher völker-
rechtswidrig, als die engliſche Marine nach der Lostrennung der Vereinigten Staten
noch amerikaniſche Matroſen weggenommener amerikaniſcher Schiffe zwingen wollte,
auf engliſchen Kriegsſchiffen zu dienen. (Vgl. Laboulaye hist. des États-Unis II.
p.
307.) Wenn ſich Freiwillige aus dem eingenommenen Lande an das Heer
des Siegers anſchließen, ſo iſt das eine ganz andere Sache.

2. Iſt aber die Eroberung vollzogen und die Souveränetät auf den
Sieger übergegangen, dann tritt das regelmäßige Unterordnungsverhältniß unter die
neue Statsgewalt auch in militäriſcher Hinſicht ein; und die geſetzliche Kriegs-
pflicht
wird auf die Bewohner des neu erworbenen Gebietes ausgedehnt, ohne
Rückſicht auf die frühere Statsgenoſſenſchaft derſelben.

577.

Die Religion und die Sprache, die Bildung und die Ehre der be-
ſiegten Feinde und der unterworfenen Privatperſonen ſind, ſo weit es die
Umſtände erlauben, zu ſchonen und wider Vergewaltigung zu ſchützen.

Am. 37. Auch darin beſteht ein großer Fortſchritt des modernen Völker-
rechts gegenüber den Anſchauungen des Mittelalters und den rohen Sitten, die noch
im vorigen Jahrhundert in Europa geübt wurden. Die Unterdrückung des
Cultus mit feindlicher Gewalt iſt Barbarei, es wäre denn, daß dieſer Cultus
ſelbſt die Menſchenrechte und die Geſetze der Sittlichkeit verletzte. Wie zähe die
bittern Erinnerungen an die Gräuel des dreißigjährigen Kriegs ſich in Deutſchland
erhalten haben, und wie ſchädlich die neuen Lehren ultramontaner Verketzerungsſucht
fortwirken, hat der deutſche Krieg des Jahres 1866 gezeigt. In vielen ſüddeutſchen Land-
gemeinden fürchteten die Proteſtanten eine neue Verfolgung ihrer Religion durch fanati-
ſirte Katholiken und umgekehrt waren manche katholiſche Gemeinden ganz erſtaunt, als
die ſiegreichen Preußen ihren Gottesdienſt mit Achtung behandelten. Erſt bei den
gebildeten Claſſen und bei den Regierungen hat der humane Grundſatz eine ſichere
Stätte gefunden, bedarf aber auch da noch einer weitern Ausbildung, insbeſondere
mit Rückſicht auf die Culturintereſſen der unterworfenen Bevölkerung.

578.

Die bewaffneten Feinde ſind den unvermeidlichen Gefahren des
Kampfes überhaupt ausgeſetzt und können auch im Einzelnkampf mit Recht
verwundet, verſtümmelt, getödtet werden. Die ſogenannten Nichtkämpfer
im Heere (Juſtiz- und Verpflegungsbeamte, Feldgeiſtliche, Aerzte, Marke-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0344" n="322"/><fw place="top" type="header">Achtes Buch.</fw><lb/>
Statsverbandes dauert im Kriege ein&#x017F;tweilen noch fort, wenn gleich die <hi rendition="#g">rechtliche<lb/>
Autorität</hi> der bisherigen Statsgewalt durch die feindliche Be&#x017F;etzung unterbrochen<lb/>
und gehemmt i&#x017F;t. Es i&#x017F;t daher unnatürlich, un&#x017F;ittlich und widerrechtlich, den Stats-<lb/>
angehörigen zuzumuthen, daß &#x017F;ie nun auch activ gegen den Stat feindlich auftreten,<lb/>
den &#x017F;ie noch als ihr rechtmäßiges Vaterland betrachten dürfen. Es war daher völker-<lb/>
rechtswidrig, als die engli&#x017F;che Marine nach der Lostrennung der Vereinigten Staten<lb/>
noch amerikani&#x017F;che Matro&#x017F;en weggenommener amerikani&#x017F;cher Schiffe zwingen wollte,<lb/>
auf engli&#x017F;chen Kriegs&#x017F;chiffen zu dienen. (Vgl. <hi rendition="#g">Laboulaye</hi> <hi rendition="#aq">hist. des États-Unis II.<lb/>
p.</hi> 307.) Wenn &#x017F;ich <hi rendition="#g">Freiwillige</hi> aus dem eingenommenen Lande an das Heer<lb/>
des Siegers an&#x017F;chließen, &#x017F;o i&#x017F;t das eine ganz andere Sache.</p><lb/>
              <p>2. I&#x017F;t aber die <hi rendition="#g">Eroberung vollzogen</hi> und die Souveränetät auf den<lb/>
Sieger übergegangen, dann tritt das regelmäßige Unterordnungsverhältniß unter die<lb/>
neue Statsgewalt auch in militäri&#x017F;cher Hin&#x017F;icht ein; und die <hi rendition="#g">ge&#x017F;etzliche Kriegs-<lb/>
pflicht</hi> wird auf die Bewohner des neu erworbenen Gebietes ausgedehnt, ohne<lb/>
Rück&#x017F;icht auf die frühere Statsgeno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft der&#x017F;elben.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>577.</head><lb/>
              <p>Die Religion und die Sprache, die Bildung und die Ehre der be-<lb/>
&#x017F;iegten Feinde und der unterworfenen Privatper&#x017F;onen &#x017F;ind, &#x017F;o weit es die<lb/>
Um&#x017F;tände erlauben, zu &#x017F;chonen und wider Vergewaltigung zu &#x017F;chützen.</p><lb/>
              <p><hi rendition="#g">Am</hi>. 37. Auch darin be&#x017F;teht ein großer Fort&#x017F;chritt des modernen Völker-<lb/>
rechts gegenüber den An&#x017F;chauungen des Mittelalters und den rohen Sitten, die noch<lb/>
im vorigen Jahrhundert in Europa geübt wurden. Die <hi rendition="#g">Unterdrückung</hi> des<lb/><hi rendition="#g">Cultus</hi> mit feindlicher Gewalt i&#x017F;t Barbarei, es wäre denn, daß die&#x017F;er Cultus<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t die Men&#x017F;chenrechte und die Ge&#x017F;etze der Sittlichkeit verletzte. Wie zähe die<lb/>
bittern Erinnerungen an die Gräuel des dreißigjährigen Kriegs &#x017F;ich in Deut&#x017F;chland<lb/>
erhalten haben, und wie &#x017F;chädlich die neuen Lehren ultramontaner Verketzerungs&#x017F;ucht<lb/>
fortwirken, hat der deut&#x017F;che Krieg des Jahres 1866 gezeigt. In vielen &#x017F;üddeut&#x017F;chen Land-<lb/>
gemeinden fürchteten die Prote&#x017F;tanten eine neue Verfolgung ihrer Religion durch fanati-<lb/>
&#x017F;irte Katholiken und umgekehrt waren manche katholi&#x017F;che Gemeinden ganz er&#x017F;taunt, als<lb/>
die &#x017F;iegreichen Preußen ihren Gottesdien&#x017F;t mit Achtung behandelten. Er&#x017F;t bei den<lb/>
gebildeten Cla&#x017F;&#x017F;en und bei den Regierungen hat der humane Grund&#x017F;atz eine &#x017F;ichere<lb/>
Stätte gefunden, bedarf aber auch da noch einer weitern Ausbildung, insbe&#x017F;ondere<lb/>
mit Rück&#x017F;icht auf die Culturintere&#x017F;&#x017F;en der unterworfenen Bevölkerung.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>578.</head><lb/>
              <p>Die bewaffneten Feinde &#x017F;ind den unvermeidlichen Gefahren des<lb/>
Kampfes überhaupt ausge&#x017F;etzt und können auch im Einzelnkampf mit Recht<lb/>
verwundet, ver&#x017F;tümmelt, getödtet werden. Die &#x017F;ogenannten Nichtkämpfer<lb/>
im Heere (Ju&#x017F;tiz- und Verpflegungsbeamte, Feldgei&#x017F;tliche, Aerzte, Marke-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[322/0344] Achtes Buch. Statsverbandes dauert im Kriege einſtweilen noch fort, wenn gleich die rechtliche Autorität der bisherigen Statsgewalt durch die feindliche Beſetzung unterbrochen und gehemmt iſt. Es iſt daher unnatürlich, unſittlich und widerrechtlich, den Stats- angehörigen zuzumuthen, daß ſie nun auch activ gegen den Stat feindlich auftreten, den ſie noch als ihr rechtmäßiges Vaterland betrachten dürfen. Es war daher völker- rechtswidrig, als die engliſche Marine nach der Lostrennung der Vereinigten Staten noch amerikaniſche Matroſen weggenommener amerikaniſcher Schiffe zwingen wollte, auf engliſchen Kriegsſchiffen zu dienen. (Vgl. Laboulaye hist. des États-Unis II. p. 307.) Wenn ſich Freiwillige aus dem eingenommenen Lande an das Heer des Siegers anſchließen, ſo iſt das eine ganz andere Sache. 2. Iſt aber die Eroberung vollzogen und die Souveränetät auf den Sieger übergegangen, dann tritt das regelmäßige Unterordnungsverhältniß unter die neue Statsgewalt auch in militäriſcher Hinſicht ein; und die geſetzliche Kriegs- pflicht wird auf die Bewohner des neu erworbenen Gebietes ausgedehnt, ohne Rückſicht auf die frühere Statsgenoſſenſchaft derſelben. 577. Die Religion und die Sprache, die Bildung und die Ehre der be- ſiegten Feinde und der unterworfenen Privatperſonen ſind, ſo weit es die Umſtände erlauben, zu ſchonen und wider Vergewaltigung zu ſchützen. Am. 37. Auch darin beſteht ein großer Fortſchritt des modernen Völker- rechts gegenüber den Anſchauungen des Mittelalters und den rohen Sitten, die noch im vorigen Jahrhundert in Europa geübt wurden. Die Unterdrückung des Cultus mit feindlicher Gewalt iſt Barbarei, es wäre denn, daß dieſer Cultus ſelbſt die Menſchenrechte und die Geſetze der Sittlichkeit verletzte. Wie zähe die bittern Erinnerungen an die Gräuel des dreißigjährigen Kriegs ſich in Deutſchland erhalten haben, und wie ſchädlich die neuen Lehren ultramontaner Verketzerungsſucht fortwirken, hat der deutſche Krieg des Jahres 1866 gezeigt. In vielen ſüddeutſchen Land- gemeinden fürchteten die Proteſtanten eine neue Verfolgung ihrer Religion durch fanati- ſirte Katholiken und umgekehrt waren manche katholiſche Gemeinden ganz erſtaunt, als die ſiegreichen Preußen ihren Gottesdienſt mit Achtung behandelten. Erſt bei den gebildeten Claſſen und bei den Regierungen hat der humane Grundſatz eine ſichere Stätte gefunden, bedarf aber auch da noch einer weitern Ausbildung, insbeſondere mit Rückſicht auf die Culturintereſſen der unterworfenen Bevölkerung. 578. Die bewaffneten Feinde ſind den unvermeidlichen Gefahren des Kampfes überhaupt ausgeſetzt und können auch im Einzelnkampf mit Recht verwundet, verſtümmelt, getödtet werden. Die ſogenannten Nichtkämpfer im Heere (Juſtiz- und Verpflegungsbeamte, Feldgeiſtliche, Aerzte, Marke-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/344
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/344>, abgerufen am 19.04.2024.