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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Achtes Buch.
10. Postliminium.
727.

Ohne Friedensschluß können ein Land und eine Bevölkerung, ein-
zelne Personen und Güter, welche während des Kriegs in feindliche Ge-
walt gerathen waren, wieder von derselben befreit werden und es kann
in Folge dessen das frühere Rechts- und Besitzesverhältniß wieder in un-
gehemmte Wirksamkeit treten, wie wenn eine Störung nicht vorgekommen
wäre. Diese Wiederbelebung des durch die Kriegsgewalt gestörten Zu-
standes heißt Postliminium.

1. Der Ausdruck postliminium ist dem römischen Recht entnommen,
hatte aber dort eine andere Grundlage und einen andern Sinn. Die Römer nahmen
an, daß durch die feindliche Gefangenschaft der römische Bürger, so lange dieselbe
dauere, seine Freiheits- und seine bürgerlichen Rechte verliere, daß er aber sofort
sein vorheriges Recht wieder erlange, wenn es ihm gelinge, sich jener Gefangen-
schaft zu entziehn. Sie fingirten dann, er sei niemals gefangen worden,
sondern habe sein Recht fortwährend erhalten, und nannten diese Fiction post-
liminium. § 5. J. Quib. mod. jus pot. solv. (I. 12): "Dictum autem post-
liminium a limine et post, ut cum qui ab hostibus captus in fines nostros
postea pervenit postliminio reversum recte dicimus; nam limina sicut in
domibus finem quemdam faciunt, sic et imperii finem limen esse veteres
voluerunt".
Dieses antike und privatrechtliche postliminium hat nun auf-
gehört, weil die Kriegsgefangenschaft nicht mehr die persönlichen Rechte der Gefan-
genen zerstört, sondern nur vorübergehend ihre Ausübung hindert. Es bedarf daher
keiner Wiederherstellung des Rechts in diesen Fällen mehr.

2. Das moderne völkerrechtliche Postliminium der heutigen Zeit hat
vorzugsweise einen öffentlich-rechtlichen Charakter und wenn es auch privat-
rechtliche Wirkungen äußert, so setzt es nicht grundsätzlich eine vorherige Verneinung
des wieder herzustellenden Rechts durch die Kriegsgewalt, sondern nur eine Behin-
derung seiner Ausübung voraus.

728.

Wird ein von dem Feinde besetzter Gebietstheil von demselben frei-
willig wieder geräumt oder wird derselbe durch die befreundete Kriegsgewalt
wieder daraus verdrängt, so hört das feindliche Kriegsrecht sofort auf und
es wird das frühere Rechtsverhältniß erneuert. Die vormalige Statsgewalt
tritt wieder in ihre Rechte und Pflichten ein.

Achtes Buch.
10. Postliminium.
727.

Ohne Friedensſchluß können ein Land und eine Bevölkerung, ein-
zelne Perſonen und Güter, welche während des Kriegs in feindliche Ge-
walt gerathen waren, wieder von derſelben befreit werden und es kann
in Folge deſſen das frühere Rechts- und Beſitzesverhältniß wieder in un-
gehemmte Wirkſamkeit treten, wie wenn eine Störung nicht vorgekommen
wäre. Dieſe Wiederbelebung des durch die Kriegsgewalt geſtörten Zu-
ſtandes heißt Postliminium.

1. Der Ausdruck postliminium iſt dem römiſchen Recht entnommen,
hatte aber dort eine andere Grundlage und einen andern Sinn. Die Römer nahmen
an, daß durch die feindliche Gefangenſchaft der römiſche Bürger, ſo lange dieſelbe
dauere, ſeine Freiheits- und ſeine bürgerlichen Rechte verliere, daß er aber ſofort
ſein vorheriges Recht wieder erlange, wenn es ihm gelinge, ſich jener Gefangen-
ſchaft zu entziehn. Sie fingirten dann, er ſei niemals gefangen worden,
ſondern habe ſein Recht fortwährend erhalten, und nannten dieſe Fiction post-
liminium. § 5. J. Quib. mod. jus pot. solv. (I. 12): „Dictum autem post-
liminium a limine et post, ut cum qui ab hostibus captus in fines nostros
postea pervenit postliminio reversum recte dicimus; nam limina sicut in
domibus finem quemdam faciunt, sic et imperii finem limen esse veteres
voluerunt“.
Dieſes antike und privatrechtliche postliminium hat nun auf-
gehört, weil die Kriegsgefangenſchaft nicht mehr die perſönlichen Rechte der Gefan-
genen zerſtört, ſondern nur vorübergehend ihre Ausübung hindert. Es bedarf daher
keiner Wiederherſtellung des Rechts in dieſen Fällen mehr.

2. Das moderne völkerrechtliche Postliminium der heutigen Zeit hat
vorzugsweiſe einen öffentlich-rechtlichen Charakter und wenn es auch privat-
rechtliche Wirkungen äußert, ſo ſetzt es nicht grundſätzlich eine vorherige Verneinung
des wieder herzuſtellenden Rechts durch die Kriegsgewalt, ſondern nur eine Behin-
derung ſeiner Ausübung voraus.

728.

Wird ein von dem Feinde beſetzter Gebietstheil von demſelben frei-
willig wieder geräumt oder wird derſelbe durch die befreundete Kriegsgewalt
wieder daraus verdrängt, ſo hört das feindliche Kriegsrecht ſofort auf und
es wird das frühere Rechtsverhältniß erneuert. Die vormalige Statsgewalt
tritt wieder in ihre Rechte und Pflichten ein.

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[394/0416] Achtes Buch. 10. Postliminium. 727. Ohne Friedensſchluß können ein Land und eine Bevölkerung, ein- zelne Perſonen und Güter, welche während des Kriegs in feindliche Ge- walt gerathen waren, wieder von derſelben befreit werden und es kann in Folge deſſen das frühere Rechts- und Beſitzesverhältniß wieder in un- gehemmte Wirkſamkeit treten, wie wenn eine Störung nicht vorgekommen wäre. Dieſe Wiederbelebung des durch die Kriegsgewalt geſtörten Zu- ſtandes heißt Postliminium. 1. Der Ausdruck postliminium iſt dem römiſchen Recht entnommen, hatte aber dort eine andere Grundlage und einen andern Sinn. Die Römer nahmen an, daß durch die feindliche Gefangenſchaft der römiſche Bürger, ſo lange dieſelbe dauere, ſeine Freiheits- und ſeine bürgerlichen Rechte verliere, daß er aber ſofort ſein vorheriges Recht wieder erlange, wenn es ihm gelinge, ſich jener Gefangen- ſchaft zu entziehn. Sie fingirten dann, er ſei niemals gefangen worden, ſondern habe ſein Recht fortwährend erhalten, und nannten dieſe Fiction post- liminium. § 5. J. Quib. mod. jus pot. solv. (I. 12): „Dictum autem post- liminium a limine et post, ut cum qui ab hostibus captus in fines nostros postea pervenit postliminio reversum recte dicimus; nam limina sicut in domibus finem quemdam faciunt, sic et imperii finem limen esse veteres voluerunt“. Dieſes antike und privatrechtliche postliminium hat nun auf- gehört, weil die Kriegsgefangenſchaft nicht mehr die perſönlichen Rechte der Gefan- genen zerſtört, ſondern nur vorübergehend ihre Ausübung hindert. Es bedarf daher keiner Wiederherſtellung des Rechts in dieſen Fällen mehr. 2. Das moderne völkerrechtliche Postliminium der heutigen Zeit hat vorzugsweiſe einen öffentlich-rechtlichen Charakter und wenn es auch privat- rechtliche Wirkungen äußert, ſo ſetzt es nicht grundſätzlich eine vorherige Verneinung des wieder herzuſtellenden Rechts durch die Kriegsgewalt, ſondern nur eine Behin- derung ſeiner Ausübung voraus. 728. Wird ein von dem Feinde beſetzter Gebietstheil von demſelben frei- willig wieder geräumt oder wird derſelbe durch die befreundete Kriegsgewalt wieder daraus verdrängt, ſo hört das feindliche Kriegsrecht ſofort auf und es wird das frühere Rechtsverhältniß erneuert. Die vormalige Statsgewalt tritt wieder in ihre Rechte und Pflichten ein.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/416>, abgerufen am 29.03.2024.