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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Recht der Neutralität.
den ohne alle Rücksicht auf das Völkerrecht, so würden sie sich gegen ihren völker-
rechtlichen Beruf verfehlen. Es bleibt daher nur übrig, jeden Conflict möglichst zu
vermeiden. Das geschieht, wenn das Landesrecht im Geiste des Völker-
rechts ausgelegt
wird. Ist trotzdem ein Widerspruch zwischen den beiden Rech-
ten vorhanden, der nicht zu versöhnen ist, so ist das Gericht zwar verpflichtet, die
bestimmte Vorschrift seines Landesgesetzes zu befolgen. Dann aber wird auch
der Stat, der ein völkerrechtswidriges Gesetz gegeben hat, dem neutralen State
verantwortlich, welcher durch dasselbe in seinen Schutzangehörigen verletzt wird;
denn der neutrale Stat ist nicht schuldig, sich ein Verfahren gefallen zu lassen,
welches im Widerspruch ist mit den anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts. Der-
selbe kann von dem Nehmestat verlangen, daß er trotz des Spruchs seines Prisen-
gerichts das neutrale Schiff oder die neutrale Waare frei gebe, wenn solches nach
Völkerrecht geschehen muß. Da das Völkerrecht für alle Staten verbindlich
ist (§ 3), so darf das statliche Gesetz nicht demselben widersprechen.
Vgl. Dana zu Wheaton, Intern. Law. § 388.

848.

Das Verfahren vor dem Prisengerichte richtet sich in Ermanglung
völkerrechtlicher Vorschriften nach der Proceßordnung des Nehmestats. Die
Neutralen haben aber ein Recht auf Vertheidigung und auf unparteiische
Rechtspflege.

1. Die Prisengesetze und Prisenverordnungen der einzelnen Staten bestimmen
das Nähere. Das Verfahren hat durchweg den Charakter einer Untersuchung
von Amts wegen
. Der Prisenführer ist verpflichtet, die Gründe, aus denen und
die Umstände, unter welchen er das Schiff genommen hat, darzulegen und das
Prisengericht prüft sodann die Schiffsurkunden, vernimmt den Schiffsführer und so-
weit nöthig die Mannschaft des aufgebrachten Schiffs und stellt die Thatsachen fest,
welche die Grundlage des Processes bilden. Dieses Vorverfahren geschieht meistens
summarisch, nicht in Form einer gegenseitigen Parteiverhandlung, sondern durch
gerichtliche Commissionen.

2. Zuweilen wird, wie in Preußen, ein Statsanwalt bestellt, der die
Anträge stellt, der nicht etwa die Interessen des Nehmers vertritt, sondern eine un-
parteiische Haltung im Interesse der gerechten Erledigung der Prüfung behauptet.
Er ist nicht advocatus fisci, sondern patronus juris.

3. Ergibt sich die Sache als unzweifelhaft, so kann sofort gesprochen
werden. Insbesondere ist, wenn eine Freisprechung erfolgen muß, diese ohne
Verzug auszusprechen. Früher nahm man es mit den Verurtheilungen
ziemlich leicht. Die neuere Ausbildung des Rechts fordert hier ein sorgfältigeres
Verfahren, welches dem bedrohten Eigenthümer des Schiffs oder der Ladung Gele-
genheit gibt, sich gehörig zu vertheidigen. Sie können ihre Reclamationen
schriftlich einreichen und werden dazu von dem Gerichte aufgefordert. Ein contra-

Recht der Neutralität.
den ohne alle Rückſicht auf das Völkerrecht, ſo würden ſie ſich gegen ihren völker-
rechtlichen Beruf verfehlen. Es bleibt daher nur übrig, jeden Conflict möglichſt zu
vermeiden. Das geſchieht, wenn das Landesrecht im Geiſte des Völker-
rechts ausgelegt
wird. Iſt trotzdem ein Widerſpruch zwiſchen den beiden Rech-
ten vorhanden, der nicht zu verſöhnen iſt, ſo iſt das Gericht zwar verpflichtet, die
beſtimmte Vorſchrift ſeines Landesgeſetzes zu befolgen. Dann aber wird auch
der Stat, der ein völkerrechtswidriges Geſetz gegeben hat, dem neutralen State
verantwortlich, welcher durch dasſelbe in ſeinen Schutzangehörigen verletzt wird;
denn der neutrale Stat iſt nicht ſchuldig, ſich ein Verfahren gefallen zu laſſen,
welches im Widerſpruch iſt mit den anerkannten Grundſätzen des Völkerrechts. Der-
ſelbe kann von dem Nehmeſtat verlangen, daß er trotz des Spruchs ſeines Priſen-
gerichts das neutrale Schiff oder die neutrale Waare frei gebe, wenn ſolches nach
Völkerrecht geſchehen muß. Da das Völkerrecht für alle Staten verbindlich
iſt (§ 3), ſo darf das ſtatliche Geſetz nicht demſelben widerſprechen.
Vgl. Dana zu Wheaton, Intern. Law. § 388.

848.

Das Verfahren vor dem Priſengerichte richtet ſich in Ermanglung
völkerrechtlicher Vorſchriften nach der Proceßordnung des Nehmeſtats. Die
Neutralen haben aber ein Recht auf Vertheidigung und auf unparteiiſche
Rechtspflege.

1. Die Priſengeſetze und Priſenverordnungen der einzelnen Staten beſtimmen
das Nähere. Das Verfahren hat durchweg den Charakter einer Unterſuchung
von Amts wegen
. Der Priſenführer iſt verpflichtet, die Gründe, aus denen und
die Umſtände, unter welchen er das Schiff genommen hat, darzulegen und das
Priſengericht prüft ſodann die Schiffsurkunden, vernimmt den Schiffsführer und ſo-
weit nöthig die Mannſchaft des aufgebrachten Schiffs und ſtellt die Thatſachen feſt,
welche die Grundlage des Proceſſes bilden. Dieſes Vorverfahren geſchieht meiſtens
ſummariſch, nicht in Form einer gegenſeitigen Parteiverhandlung, ſondern durch
gerichtliche Commiſſionen.

2. Zuweilen wird, wie in Preußen, ein Statsanwalt beſtellt, der die
Anträge ſtellt, der nicht etwa die Intereſſen des Nehmers vertritt, ſondern eine un-
parteiiſche Haltung im Intereſſe der gerechten Erledigung der Prüfung behauptet.
Er iſt nicht advocatus fisci, ſondern patronus juris.

3. Ergibt ſich die Sache als unzweifelhaft, ſo kann ſofort geſprochen
werden. Insbeſondere iſt, wenn eine Freiſprechung erfolgen muß, dieſe ohne
Verzug auszuſprechen. Früher nahm man es mit den Verurtheilungen
ziemlich leicht. Die neuere Ausbildung des Rechts fordert hier ein ſorgfältigeres
Verfahren, welches dem bedrohten Eigenthümer des Schiffs oder der Ladung Gele-
genheit gibt, ſich gehörig zu vertheidigen. Sie können ihre Reclamationen
ſchriftlich einreichen und werden dazu von dem Gerichte aufgefordert. Ein contra-

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[459/0481] Recht der Neutralität. den ohne alle Rückſicht auf das Völkerrecht, ſo würden ſie ſich gegen ihren völker- rechtlichen Beruf verfehlen. Es bleibt daher nur übrig, jeden Conflict möglichſt zu vermeiden. Das geſchieht, wenn das Landesrecht im Geiſte des Völker- rechts ausgelegt wird. Iſt trotzdem ein Widerſpruch zwiſchen den beiden Rech- ten vorhanden, der nicht zu verſöhnen iſt, ſo iſt das Gericht zwar verpflichtet, die beſtimmte Vorſchrift ſeines Landesgeſetzes zu befolgen. Dann aber wird auch der Stat, der ein völkerrechtswidriges Geſetz gegeben hat, dem neutralen State verantwortlich, welcher durch dasſelbe in ſeinen Schutzangehörigen verletzt wird; denn der neutrale Stat iſt nicht ſchuldig, ſich ein Verfahren gefallen zu laſſen, welches im Widerſpruch iſt mit den anerkannten Grundſätzen des Völkerrechts. Der- ſelbe kann von dem Nehmeſtat verlangen, daß er trotz des Spruchs ſeines Priſen- gerichts das neutrale Schiff oder die neutrale Waare frei gebe, wenn ſolches nach Völkerrecht geſchehen muß. Da das Völkerrecht für alle Staten verbindlich iſt (§ 3), ſo darf das ſtatliche Geſetz nicht demſelben widerſprechen. Vgl. Dana zu Wheaton, Intern. Law. § 388. 848. Das Verfahren vor dem Priſengerichte richtet ſich in Ermanglung völkerrechtlicher Vorſchriften nach der Proceßordnung des Nehmeſtats. Die Neutralen haben aber ein Recht auf Vertheidigung und auf unparteiiſche Rechtspflege. 1. Die Priſengeſetze und Priſenverordnungen der einzelnen Staten beſtimmen das Nähere. Das Verfahren hat durchweg den Charakter einer Unterſuchung von Amts wegen. Der Priſenführer iſt verpflichtet, die Gründe, aus denen und die Umſtände, unter welchen er das Schiff genommen hat, darzulegen und das Priſengericht prüft ſodann die Schiffsurkunden, vernimmt den Schiffsführer und ſo- weit nöthig die Mannſchaft des aufgebrachten Schiffs und ſtellt die Thatſachen feſt, welche die Grundlage des Proceſſes bilden. Dieſes Vorverfahren geſchieht meiſtens ſummariſch, nicht in Form einer gegenſeitigen Parteiverhandlung, ſondern durch gerichtliche Commiſſionen. 2. Zuweilen wird, wie in Preußen, ein Statsanwalt beſtellt, der die Anträge ſtellt, der nicht etwa die Intereſſen des Nehmers vertritt, ſondern eine un- parteiiſche Haltung im Intereſſe der gerechten Erledigung der Prüfung behauptet. Er iſt nicht advocatus fisci, ſondern patronus juris. 3. Ergibt ſich die Sache als unzweifelhaft, ſo kann ſofort geſprochen werden. Insbeſondere iſt, wenn eine Freiſprechung erfolgen muß, dieſe ohne Verzug auszuſprechen. Früher nahm man es mit den Verurtheilungen ziemlich leicht. Die neuere Ausbildung des Rechts fordert hier ein ſorgfältigeres Verfahren, welches dem bedrohten Eigenthümer des Schiffs oder der Ladung Gele- genheit gibt, ſich gehörig zu vertheidigen. Sie können ihre Reclamationen ſchriftlich einreichen und werden dazu von dem Gerichte aufgefordert. Ein contra-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/481>, abgerufen am 28.03.2024.