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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Einleitung.
das völkerrechtliche Verhalten ist daher die statsrechtliche Erledigung gewöhn-
lich Maß gebend. Jene Vorwürfe, auch wenn sie gerecht wären, würden
daher eher das moderne Statsrecht treffen als das Völkerrecht, welches
genöthigt und berufen ist, die statlichen Bildungen, wie sie in der
Welt existiren, neben einander anzuerkennen und mit einander zu ver-
binden.

In der europäischen Restaurationsperiode von 1815 bis 1830 ver-
suchten es die Mächte der Heiligen Allianz auf den Congressen von Aachen
und mehr noch auf den Congressen von Laibach und Verona das Princip
der dynastischen Legitimität zu einem Grundgesetz des europäschen
Völkerrechts zu erheben. Jede constitutionelle Beschränkung der absoluten
Fürstengewalt und jede Aenderung in dem neu garantirten Territorialbesitz
wurden als Revolution verdammt und der Schutz der bestehenden Stats-
autoritäten als eine Pflicht der fünf Großmächte dargestellt, welche berufen
seien, das öffentliche Recht in Europa zu sichern und zu schützen.

Die Weltgeschichte hat über den damaligen Versuch gerichtet, sie hat
die Unausführbarkeit desselben an den Tag gebracht und die Mängel jenes
Grundgedankens schonungslos aufgedeckt.

Die mittelalterliche Vorstellung, welche von der Legitimitätspolitik zu
einem künstlichen Scheinleben wieder erweckt wurde, betrachtete die Landes-
herrschaft wie ein göttliches Lehen und wie ein Stamm- und Erbgut der
Dynastien, worüber beliebig zu verfügen dem regierenden Familienhaupte
zustehe, welches so wenig der Wandlung ausgesetzt sei, wie das feste der
Privatperson gehörige Grundeigenthum. Von diesem Standpunkte aus
erschien der Kampf um die Regierung eines Landes wie der Kampf zwi-
schen Eigenthümer und Räuber. Nach dem Grundsatze solcher Legitimität
galt es als selbstverständlich, daß das geschichtlich begründete Thronrecht
unter allen Umständen, wie ein Eigenthum erhalten werden müsse wider
jede Besitzstörung.

Aber diese ganze Grundansicht von Fürstenrecht ist noch unreif und
beinahe kindisch. Das Recht und die davon nicht abzutrennende Pflicht,
ein Volk zu regieren, ist in Wahrheit kein Privat- und kein Familienrecht,
es ist kein Eigenthum. Das Volk ist eine lebendige Person und der Fürst
ist nicht außer und nicht wie der Eigenthümer einer Herde Vieh über
sondern in dem Volke als das Haupt des Volkes. Sein Recht ist
öffentliches Recht und öffentliche Pflicht, Statsrecht und Statspflicht. Alle
Fragen der Statsherrschaft sind daher nicht nach den privatrechtlichen

Einleitung.
das völkerrechtliche Verhalten iſt daher die ſtatsrechtliche Erledigung gewöhn-
lich Maß gebend. Jene Vorwürfe, auch wenn ſie gerecht wären, würden
daher eher das moderne Statsrecht treffen als das Völkerrecht, welches
genöthigt und berufen iſt, die ſtatlichen Bildungen, wie ſie in der
Welt exiſtiren, neben einander anzuerkennen und mit einander zu ver-
binden.

In der europäiſchen Reſtaurationsperiode von 1815 bis 1830 ver-
ſuchten es die Mächte der Heiligen Allianz auf den Congreſſen von Aachen
und mehr noch auf den Congreſſen von Laibach und Verona das Princip
der dynaſtiſchen Legitimität zu einem Grundgeſetz des europäſchen
Völkerrechts zu erheben. Jede conſtitutionelle Beſchränkung der abſoluten
Fürſtengewalt und jede Aenderung in dem neu garantirten Territorialbeſitz
wurden als Revolution verdammt und der Schutz der beſtehenden Stats-
autoritäten als eine Pflicht der fünf Großmächte dargeſtellt, welche berufen
ſeien, das öffentliche Recht in Europa zu ſichern und zu ſchützen.

Die Weltgeſchichte hat über den damaligen Verſuch gerichtet, ſie hat
die Unausführbarkeit desſelben an den Tag gebracht und die Mängel jenes
Grundgedankens ſchonungslos aufgedeckt.

Die mittelalterliche Vorſtellung, welche von der Legitimitätspolitik zu
einem künſtlichen Scheinleben wieder erweckt wurde, betrachtete die Landes-
herrſchaft wie ein göttliches Lehen und wie ein Stamm- und Erbgut der
Dynaſtien, worüber beliebig zu verfügen dem regierenden Familienhaupte
zuſtehe, welches ſo wenig der Wandlung ausgeſetzt ſei, wie das feſte der
Privatperſon gehörige Grundeigenthum. Von dieſem Standpunkte aus
erſchien der Kampf um die Regierung eines Landes wie der Kampf zwi-
ſchen Eigenthümer und Räuber. Nach dem Grundſatze ſolcher Legitimität
galt es als ſelbſtverſtändlich, daß das geſchichtlich begründete Thronrecht
unter allen Umſtänden, wie ein Eigenthum erhalten werden müſſe wider
jede Beſitzſtörung.

Aber dieſe ganze Grundanſicht von Fürſtenrecht iſt noch unreif und
beinahe kindiſch. Das Recht und die davon nicht abzutrennende Pflicht,
ein Volk zu regieren, iſt in Wahrheit kein Privat- und kein Familienrecht,
es iſt kein Eigenthum. Das Volk iſt eine lebendige Perſon und der Fürſt
iſt nicht außer und nicht wie der Eigenthümer einer Herde Vieh über
ſondern in dem Volke als das Haupt des Volkes. Sein Recht iſt
öffentliches Recht und öffentliche Pflicht, Statsrecht und Statspflicht. Alle
Fragen der Statsherrſchaft ſind daher nicht nach den privatrechtlichen

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[47/0069] Einleitung. das völkerrechtliche Verhalten iſt daher die ſtatsrechtliche Erledigung gewöhn- lich Maß gebend. Jene Vorwürfe, auch wenn ſie gerecht wären, würden daher eher das moderne Statsrecht treffen als das Völkerrecht, welches genöthigt und berufen iſt, die ſtatlichen Bildungen, wie ſie in der Welt exiſtiren, neben einander anzuerkennen und mit einander zu ver- binden. In der europäiſchen Reſtaurationsperiode von 1815 bis 1830 ver- ſuchten es die Mächte der Heiligen Allianz auf den Congreſſen von Aachen und mehr noch auf den Congreſſen von Laibach und Verona das Princip der dynaſtiſchen Legitimität zu einem Grundgeſetz des europäſchen Völkerrechts zu erheben. Jede conſtitutionelle Beſchränkung der abſoluten Fürſtengewalt und jede Aenderung in dem neu garantirten Territorialbeſitz wurden als Revolution verdammt und der Schutz der beſtehenden Stats- autoritäten als eine Pflicht der fünf Großmächte dargeſtellt, welche berufen ſeien, das öffentliche Recht in Europa zu ſichern und zu ſchützen. Die Weltgeſchichte hat über den damaligen Verſuch gerichtet, ſie hat die Unausführbarkeit desſelben an den Tag gebracht und die Mängel jenes Grundgedankens ſchonungslos aufgedeckt. Die mittelalterliche Vorſtellung, welche von der Legitimitätspolitik zu einem künſtlichen Scheinleben wieder erweckt wurde, betrachtete die Landes- herrſchaft wie ein göttliches Lehen und wie ein Stamm- und Erbgut der Dynaſtien, worüber beliebig zu verfügen dem regierenden Familienhaupte zuſtehe, welches ſo wenig der Wandlung ausgeſetzt ſei, wie das feſte der Privatperſon gehörige Grundeigenthum. Von dieſem Standpunkte aus erſchien der Kampf um die Regierung eines Landes wie der Kampf zwi- ſchen Eigenthümer und Räuber. Nach dem Grundſatze ſolcher Legitimität galt es als ſelbſtverſtändlich, daß das geſchichtlich begründete Thronrecht unter allen Umſtänden, wie ein Eigenthum erhalten werden müſſe wider jede Beſitzſtörung. Aber dieſe ganze Grundanſicht von Fürſtenrecht iſt noch unreif und beinahe kindiſch. Das Recht und die davon nicht abzutrennende Pflicht, ein Volk zu regieren, iſt in Wahrheit kein Privat- und kein Familienrecht, es iſt kein Eigenthum. Das Volk iſt eine lebendige Perſon und der Fürſt iſt nicht außer und nicht wie der Eigenthümer einer Herde Vieh über ſondern in dem Volke als das Haupt des Volkes. Sein Recht iſt öffentliches Recht und öffentliche Pflicht, Statsrecht und Statspflicht. Alle Fragen der Statsherrſchaft ſind daher nicht nach den privatrechtlichen

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/69>, abgerufen am 29.03.2024.