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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Zweites Buch.

In dieser frühzeitigen Anerkennung liegt keine Theilnahme an dem
Kampf und keine Rechtsverletzung gegen den Stat, welcher seinerseits die
neue Statenbildung bekämpft.

Beispiele sind die Anerkennung der Vereinigten Staten durch Frank-
reich
im Jahr 1778 während des englisch-amerikanischen Kriegs und die Verhand-
lungen zwischen Frankreich und England darüber (vgl. Wheaton (hist. d. Droit
des gens I. p.
354) die Anerkennung der südamerikanischen Staten durch
England 1825 (Depeschen von Canning bei Phillimore II. App. 1.), der
Vertrag zwischen England, Frankreich und Rußland vom 6. Juli 1827
über Griechenland als einen neuen Stat, die Anerkennung des Königreichs Bel-
gien
durch die V Mächte 1830 trotz der Einsprache des Königs der Niederlande,
die Anerkennung des Königreichs Italien auch in dem Neapolitanischen Gebiete
und in der Romagna durch England, während der König Franz II. von Neapel
noch in Gaeta sich zu halten suchte. (Vgl. die merkwürdige Note Lord Russels
vom 27. Oct. 1860.)

33.

Die frühzeitige Anerkennung kann jedoch in der Absicht geschehen,
sich an dem Kampfe zu betheiligen und für die statenbildende Macht Partei
zu ergreifen. In diesem Falle ist der Stat, welcher die neue Staten-
bildung mit Kriegsgewalt zu verhindern sucht, berechtigt, jene Handlung
als eine feindliche That zu betrachten und demgemäß zu handeln.

Vgl. Anm. zu §. 32. England hat in Folge der frühen Anerkennung
der Vereinigten Staten durch Frankreich 1778 seinen Gesanten von
Paris abgerufen, und darin einen casus belli gesehen. Die Proclamation des
französischen Nationalconvents an die Völker vom 19. Nov. 1793 und das An-
erbieten der Bundesgenossenschaft war eine active Begünstigung und Theilnahme an
der Neugestaltung republikanischer Staten, ebenso die Unterstützung der helveti-
schen
Republik durch die französische wider die alten Republiken der Eid-
genossenschaft 1798.

34.

Kein Stat ist verpflichtet, den neuen Stat sofort nach dem sieg-
reichen Durchbruch der neuen Statenbildung anzuerkennen, wenn noch eine
ernste Gefahr in Aussicht ist, daß der Kampf um dessen Existenz erneuert
werde, indem ebendeßhalb seine Fortdauer noch als zweifelhaft betrachtet
werden kann.

Aber jeder Stat ist berechtigt, trotz solcher Zweifel im Vertrauen auf

Zweites Buch.

In dieſer frühzeitigen Anerkennung liegt keine Theilnahme an dem
Kampf und keine Rechtsverletzung gegen den Stat, welcher ſeinerſeits die
neue Statenbildung bekämpft.

Beiſpiele ſind die Anerkennung der Vereinigten Staten durch Frank-
reich
im Jahr 1778 während des engliſch-amerikaniſchen Kriegs und die Verhand-
lungen zwiſchen Frankreich und England darüber (vgl. Wheaton (hist. d. Droit
des gens I. p.
354) die Anerkennung der ſüdamerikaniſchen Staten durch
England 1825 (Depeſchen von Canning bei Phillimore II. App. 1.), der
Vertrag zwiſchen England, Frankreich und Rußland vom 6. Juli 1827
über Griechenland als einen neuen Stat, die Anerkennung des Königreichs Bel-
gien
durch die V Mächte 1830 trotz der Einſprache des Königs der Niederlande,
die Anerkennung des Königreichs Italien auch in dem Neapolitaniſchen Gebiete
und in der Romagna durch England, während der König Franz II. von Neapel
noch in Gaëta ſich zu halten ſuchte. (Vgl. die merkwürdige Note Lord Ruſſels
vom 27. Oct. 1860.)

33.

Die frühzeitige Anerkennung kann jedoch in der Abſicht geſchehen,
ſich an dem Kampfe zu betheiligen und für die ſtatenbildende Macht Partei
zu ergreifen. In dieſem Falle iſt der Stat, welcher die neue Staten-
bildung mit Kriegsgewalt zu verhindern ſucht, berechtigt, jene Handlung
als eine feindliche That zu betrachten und demgemäß zu handeln.

Vgl. Anm. zu §. 32. England hat in Folge der frühen Anerkennung
der Vereinigten Staten durch Frankreich 1778 ſeinen Geſanten von
Paris abgerufen, und darin einen casus belli geſehen. Die Proclamation des
franzöſiſchen Nationalconvents an die Völker vom 19. Nov. 1793 und das An-
erbieten der Bundesgenoſſenſchaft war eine active Begünſtigung und Theilnahme an
der Neugeſtaltung republikaniſcher Staten, ebenſo die Unterſtützung der helveti-
ſchen
Republik durch die franzöſiſche wider die alten Republiken der Eid-
genoſſenſchaft 1798.

34.

Kein Stat iſt verpflichtet, den neuen Stat ſofort nach dem ſieg-
reichen Durchbruch der neuen Statenbildung anzuerkennen, wenn noch eine
ernſte Gefahr in Ausſicht iſt, daß der Kampf um deſſen Exiſtenz erneuert
werde, indem ebendeßhalb ſeine Fortdauer noch als zweifelhaft betrachtet
werden kann.

Aber jeder Stat iſt berechtigt, trotz ſolcher Zweifel im Vertrauen auf

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[70/0092] Zweites Buch. In dieſer frühzeitigen Anerkennung liegt keine Theilnahme an dem Kampf und keine Rechtsverletzung gegen den Stat, welcher ſeinerſeits die neue Statenbildung bekämpft. Beiſpiele ſind die Anerkennung der Vereinigten Staten durch Frank- reich im Jahr 1778 während des engliſch-amerikaniſchen Kriegs und die Verhand- lungen zwiſchen Frankreich und England darüber (vgl. Wheaton (hist. d. Droit des gens I. p. 354) die Anerkennung der ſüdamerikaniſchen Staten durch England 1825 (Depeſchen von Canning bei Phillimore II. App. 1.), der Vertrag zwiſchen England, Frankreich und Rußland vom 6. Juli 1827 über Griechenland als einen neuen Stat, die Anerkennung des Königreichs Bel- gien durch die V Mächte 1830 trotz der Einſprache des Königs der Niederlande, die Anerkennung des Königreichs Italien auch in dem Neapolitaniſchen Gebiete und in der Romagna durch England, während der König Franz II. von Neapel noch in Gaëta ſich zu halten ſuchte. (Vgl. die merkwürdige Note Lord Ruſſels vom 27. Oct. 1860.) 33. Die frühzeitige Anerkennung kann jedoch in der Abſicht geſchehen, ſich an dem Kampfe zu betheiligen und für die ſtatenbildende Macht Partei zu ergreifen. In dieſem Falle iſt der Stat, welcher die neue Staten- bildung mit Kriegsgewalt zu verhindern ſucht, berechtigt, jene Handlung als eine feindliche That zu betrachten und demgemäß zu handeln. Vgl. Anm. zu §. 32. England hat in Folge der frühen Anerkennung der Vereinigten Staten durch Frankreich 1778 ſeinen Geſanten von Paris abgerufen, und darin einen casus belli geſehen. Die Proclamation des franzöſiſchen Nationalconvents an die Völker vom 19. Nov. 1793 und das An- erbieten der Bundesgenoſſenſchaft war eine active Begünſtigung und Theilnahme an der Neugeſtaltung republikaniſcher Staten, ebenſo die Unterſtützung der helveti- ſchen Republik durch die franzöſiſche wider die alten Republiken der Eid- genoſſenſchaft 1798. 34. Kein Stat iſt verpflichtet, den neuen Stat ſofort nach dem ſieg- reichen Durchbruch der neuen Statenbildung anzuerkennen, wenn noch eine ernſte Gefahr in Ausſicht iſt, daß der Kampf um deſſen Exiſtenz erneuert werde, indem ebendeßhalb ſeine Fortdauer noch als zweifelhaft betrachtet werden kann. Aber jeder Stat iſt berechtigt, trotz ſolcher Zweifel im Vertrauen auf

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/92>, abgerufen am 25.04.2024.