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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Zweites Buch.
dabei Kräfte, die bis dahin nicht im Besitz der Statsgewalt waren, diese durch Kampf
mit andern Gewalthabern erstreiten müssen. Man braucht nur die Entstehungs-
geschichte der gegenwärtigen Staten näher zu prüfen, so wird man überall wahr-
nehmen, daß die alten Autoritäten und das geschichtliche alte Recht der neuen
Statenbildung ihren Widerstand entgegen zu setzen versucht haben und daß die neue
Rechtsbildung genöthigt war, diesen Widerstand zu überwältigen. Kriege, Revo-
lutionen, Usurpationen haben einen weit größeren Antheil an der Bildung neuer
Staten als friedliche Verträge, oder freiwillige Verleihungen und unwidersprochene
Statsacte. Für das Völkerrecht ist aber immer entscheidend die Existenz der
Staten
. Da diese Rechtspersonen sind, so müssen sie als solche betrachtet und
ihre Beziehungen zu einander menschlich geregelt werden. Die Mängel in der
Rechtsform der Entstehung haben gewöhnlich nur eine statsrechtliche Bedeutung
und werden auch statsrechtlich geheilt. Das Völkerrecht braucht sich nicht
darum zu kümmern. Nur wenn im Kampf mit einem andern State die Neu-
bildung durchgeführt wird, wird diese Frage zu einer völkerrechtlichen. Davon
handelt der folgende Artikel.

38.

Wenn ein Stat, dessen Rechte bei der Neubildung eines andern
States verletzt worden sind, außer Stande ist, diese Neubildung und den
Bestand des neuen States zu verhindern, so hat er auch das Recht nicht,
demselben seine Anerkennung länger zu versagen.

Der Gang der Weltgeschichte, in welchem sich die dauernde Macht der
Verhältnisse
offenbart, also auch das lebendige Recht sichtbar wird, zerstört
alte und begründet neue Rechte. Wenn jene unhaltbar geworden sind, so gehen
sie unter, und wenn diese ihre Macht und Autorität bewährt haben, so sind sie nicht
mehr zu ignoriren. Spanien hat die Losreißung der Niederlande und das
deutsche Reich hat die Unabhängigkeit der Schweizerischen Cantone erst im
Westphälischen Frieden anerkannt. So zähe die alten Mächte das längst erstorbene
Recht der frühern Jahrhunderte noch bewahren wollten, sie waren dennoch schließlich
durch die Macht der Zeit genöthigt, die Umgestaltung anzuerkennen. Vgl. unten B. IV.


3. Einfluß der Verfassungswandlung auf die völkerrechtlichen
Verhältnisse der Staten.
39.

Die besondere Verfassung eines States bildet in der Regel keinen
Theil des Völkerrechts, sondern ist dessen Statsrecht.

Zweites Buch.
dabei Kräfte, die bis dahin nicht im Beſitz der Statsgewalt waren, dieſe durch Kampf
mit andern Gewalthabern erſtreiten müſſen. Man braucht nur die Entſtehungs-
geſchichte der gegenwärtigen Staten näher zu prüfen, ſo wird man überall wahr-
nehmen, daß die alten Autoritäten und das geſchichtliche alte Recht der neuen
Statenbildung ihren Widerſtand entgegen zu ſetzen verſucht haben und daß die neue
Rechtsbildung genöthigt war, dieſen Widerſtand zu überwältigen. Kriege, Revo-
lutionen, Uſurpationen haben einen weit größeren Antheil an der Bildung neuer
Staten als friedliche Verträge, oder freiwillige Verleihungen und unwiderſprochene
Statsacte. Für das Völkerrecht iſt aber immer entſcheidend die Exiſtenz der
Staten
. Da dieſe Rechtsperſonen ſind, ſo müſſen ſie als ſolche betrachtet und
ihre Beziehungen zu einander menſchlich geregelt werden. Die Mängel in der
Rechtsform der Entſtehung haben gewöhnlich nur eine ſtatsrechtliche Bedeutung
und werden auch ſtatsrechtlich geheilt. Das Völkerrecht braucht ſich nicht
darum zu kümmern. Nur wenn im Kampf mit einem andern State die Neu-
bildung durchgeführt wird, wird dieſe Frage zu einer völkerrechtlichen. Davon
handelt der folgende Artikel.

38.

Wenn ein Stat, deſſen Rechte bei der Neubildung eines andern
States verletzt worden ſind, außer Stande iſt, dieſe Neubildung und den
Beſtand des neuen States zu verhindern, ſo hat er auch das Recht nicht,
demſelben ſeine Anerkennung länger zu verſagen.

Der Gang der Weltgeſchichte, in welchem ſich die dauernde Macht der
Verhältniſſe
offenbart, alſo auch das lebendige Recht ſichtbar wird, zerſtört
alte und begründet neue Rechte. Wenn jene unhaltbar geworden ſind, ſo gehen
ſie unter, und wenn dieſe ihre Macht und Autorität bewährt haben, ſo ſind ſie nicht
mehr zu ignoriren. Spanien hat die Losreißung der Niederlande und das
deutſche Reich hat die Unabhängigkeit der Schweizeriſchen Cantone erſt im
Weſtphäliſchen Frieden anerkannt. So zähe die alten Mächte das längſt erſtorbene
Recht der frühern Jahrhunderte noch bewahren wollten, ſie waren dennoch ſchließlich
durch die Macht der Zeit genöthigt, die Umgeſtaltung anzuerkennen. Vgl. unten B. IV.


3. Einfluß der Verfaſſungswandlung auf die völkerrechtlichen
Verhältniſſe der Staten.
39.

Die beſondere Verfaſſung eines States bildet in der Regel keinen
Theil des Völkerrechts, ſondern iſt deſſen Statsrecht.

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[72/0094] Zweites Buch. dabei Kräfte, die bis dahin nicht im Beſitz der Statsgewalt waren, dieſe durch Kampf mit andern Gewalthabern erſtreiten müſſen. Man braucht nur die Entſtehungs- geſchichte der gegenwärtigen Staten näher zu prüfen, ſo wird man überall wahr- nehmen, daß die alten Autoritäten und das geſchichtliche alte Recht der neuen Statenbildung ihren Widerſtand entgegen zu ſetzen verſucht haben und daß die neue Rechtsbildung genöthigt war, dieſen Widerſtand zu überwältigen. Kriege, Revo- lutionen, Uſurpationen haben einen weit größeren Antheil an der Bildung neuer Staten als friedliche Verträge, oder freiwillige Verleihungen und unwiderſprochene Statsacte. Für das Völkerrecht iſt aber immer entſcheidend die Exiſtenz der Staten. Da dieſe Rechtsperſonen ſind, ſo müſſen ſie als ſolche betrachtet und ihre Beziehungen zu einander menſchlich geregelt werden. Die Mängel in der Rechtsform der Entſtehung haben gewöhnlich nur eine ſtatsrechtliche Bedeutung und werden auch ſtatsrechtlich geheilt. Das Völkerrecht braucht ſich nicht darum zu kümmern. Nur wenn im Kampf mit einem andern State die Neu- bildung durchgeführt wird, wird dieſe Frage zu einer völkerrechtlichen. Davon handelt der folgende Artikel. 38. Wenn ein Stat, deſſen Rechte bei der Neubildung eines andern States verletzt worden ſind, außer Stande iſt, dieſe Neubildung und den Beſtand des neuen States zu verhindern, ſo hat er auch das Recht nicht, demſelben ſeine Anerkennung länger zu verſagen. Der Gang der Weltgeſchichte, in welchem ſich die dauernde Macht der Verhältniſſe offenbart, alſo auch das lebendige Recht ſichtbar wird, zerſtört alte und begründet neue Rechte. Wenn jene unhaltbar geworden ſind, ſo gehen ſie unter, und wenn dieſe ihre Macht und Autorität bewährt haben, ſo ſind ſie nicht mehr zu ignoriren. Spanien hat die Losreißung der Niederlande und das deutſche Reich hat die Unabhängigkeit der Schweizeriſchen Cantone erſt im Weſtphäliſchen Frieden anerkannt. So zähe die alten Mächte das längſt erſtorbene Recht der frühern Jahrhunderte noch bewahren wollten, ſie waren dennoch ſchließlich durch die Macht der Zeit genöthigt, die Umgeſtaltung anzuerkennen. Vgl. unten B. IV. 3. Einfluß der Verfaſſungswandlung auf die völkerrechtlichen Verhältniſſe der Staten. 39. Die beſondere Verfaſſung eines States bildet in der Regel keinen Theil des Völkerrechts, ſondern iſt deſſen Statsrecht.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/94>, abgerufen am 23.04.2024.