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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Zweites Buch.
Mächte mit Frankreich nach der Erhebung Napoleons III. zum Kaiser von Frank-
reich allseitig anerkannt. Vgl. unten § 123. Der moderne Grundsatz ist in dem
Protokoll der V Großmächte zu London (19. Februar 1831) ausgesprochen:
"D'apres ce principe d'un ordre superieur, les Traites ne perdent pas leur
puissance, quels que soient les changemens qui interviennent dans l'organi-
sation interieure des peuples."

42.

Ueberhaupt werden Rechte und Pflichten eines States gegen einen
andern Stat nicht verändert, wenn gleich die Regierungsform eines dieser
Staten eine Wandelung erfährt.

Auch das Statsvermögen verbleibt dem State trotz des Wechsels
der Dynastie oder der Statsform.

Es zeigt sich das z. B. in den Grenzverhältnissen und bei Statsdienst-
barkeiten. Dieselben bleiben dieselben, mag der Stat monarchisch oder republikanisch
regiert werden, diese oder jene Verfassung haben.

43.

Nur diejenigen völkerrechtlichen Verträge und Rechtsverhältnisse,
welche sich wesentlich nicht auf den Stat selbst sondern nur auf die Per-
sonen bestimmter Regenten oder Dynastien im State beziehen, verlieren
durch eine Verfassungswandelung ihre Geltung und Wirksamkeit, wenn jene
Personen in Folge derselben ihre Eigenschaft als Häupter oder Dynastien
dieses States einbüßen.

Deßhalb haben Verträge eines States mit der Dynastie eines andern
States, welche den Schutz derselben bezwecken, nur eine beschränkte Wirksamkeit.
Wenn trotzdem diese Dynastie durch eine Revolution gestürzt oder durch eine
Usurpation beseitigt wird und die Verfassungsänderung so vollzogen ist, daß ein
neues Statsrecht zur Wirksamkeit gelangt ist, so hört auch für den Stat, welcher
die gestürzte Dynastie zu schützen versprochen hatte, diese Verpflichtung auf. Beispiele
sind die Verträge König Ludwigs XIV. von Frankreich mit Jakob II. von
England, die Verträge des Kaisers von Oesterreich mit dem Bourbonischen
Königshause von Neapel und andern Italienischen Fürsten, nach der Restauration
von 1815, die Verabredungen Napoleons III. mit dem Kaiser Maximilian
von Mexico in unsern Tagen. Das Statsrecht wirkt in allen diesen Dingen ent-
scheidend und das Völkerrecht wirkt nur nachträglich unter der Voraussetzung
des Statsrechts.

44.

Wird eine entthronte oder vertriebene Dynastie später wieder re-
staurirt, so ist sie nicht berechtigt, die völkerrechtlichen Verhältnisse, welche

Zweites Buch.
Mächte mit Frankreich nach der Erhebung Napoleons III. zum Kaiſer von Frank-
reich allſeitig anerkannt. Vgl. unten § 123. Der moderne Grundſatz iſt in dem
Protokoll der V Großmächte zu London (19. Februar 1831) ausgeſprochen:
„D’après ce principe d’un ordre supérieur, les Traités ne perdent pas leur
puissance, quels que soient les changemens qui interviennent dans l’organi-
sation intérieure des peuples.“

42.

Ueberhaupt werden Rechte und Pflichten eines States gegen einen
andern Stat nicht verändert, wenn gleich die Regierungsform eines dieſer
Staten eine Wandelung erfährt.

Auch das Statsvermögen verbleibt dem State trotz des Wechſels
der Dynaſtie oder der Statsform.

Es zeigt ſich das z. B. in den Grenzverhältniſſen und bei Statsdienſt-
barkeiten. Dieſelben bleiben dieſelben, mag der Stat monarchiſch oder republikaniſch
regiert werden, dieſe oder jene Verfaſſung haben.

43.

Nur diejenigen völkerrechtlichen Verträge und Rechtsverhältniſſe,
welche ſich weſentlich nicht auf den Stat ſelbſt ſondern nur auf die Per-
ſonen beſtimmter Regenten oder Dynaſtien im State beziehen, verlieren
durch eine Verfaſſungswandelung ihre Geltung und Wirkſamkeit, wenn jene
Perſonen in Folge derſelben ihre Eigenſchaft als Häupter oder Dynaſtien
dieſes States einbüßen.

Deßhalb haben Verträge eines States mit der Dynaſtie eines andern
States, welche den Schutz derſelben bezwecken, nur eine beſchränkte Wirkſamkeit.
Wenn trotzdem dieſe Dynaſtie durch eine Revolution geſtürzt oder durch eine
Uſurpation beſeitigt wird und die Verfaſſungsänderung ſo vollzogen iſt, daß ein
neues Statsrecht zur Wirkſamkeit gelangt iſt, ſo hört auch für den Stat, welcher
die geſtürzte Dynaſtie zu ſchützen verſprochen hatte, dieſe Verpflichtung auf. Beiſpiele
ſind die Verträge König Ludwigs XIV. von Frankreich mit Jakob II. von
England, die Verträge des Kaiſers von Oeſterreich mit dem Bourboniſchen
Königshauſe von Neapel und andern Italieniſchen Fürſten, nach der Reſtauration
von 1815, die Verabredungen Napoleons III. mit dem Kaiſer Maximilian
von Mexico in unſern Tagen. Das Statsrecht wirkt in allen dieſen Dingen ent-
ſcheidend und das Völkerrecht wirkt nur nachträglich unter der Vorausſetzung
des Statsrechts.

44.

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ſtaurirt, ſo iſt ſie nicht berechtigt, die völkerrechtlichen Verhältniſſe, welche

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[74/0096] Zweites Buch. Mächte mit Frankreich nach der Erhebung Napoleons III. zum Kaiſer von Frank- reich allſeitig anerkannt. Vgl. unten § 123. Der moderne Grundſatz iſt in dem Protokoll der V Großmächte zu London (19. Februar 1831) ausgeſprochen: „D’après ce principe d’un ordre supérieur, les Traités ne perdent pas leur puissance, quels que soient les changemens qui interviennent dans l’organi- sation intérieure des peuples.“ 42. Ueberhaupt werden Rechte und Pflichten eines States gegen einen andern Stat nicht verändert, wenn gleich die Regierungsform eines dieſer Staten eine Wandelung erfährt. Auch das Statsvermögen verbleibt dem State trotz des Wechſels der Dynaſtie oder der Statsform. Es zeigt ſich das z. B. in den Grenzverhältniſſen und bei Statsdienſt- barkeiten. Dieſelben bleiben dieſelben, mag der Stat monarchiſch oder republikaniſch regiert werden, dieſe oder jene Verfaſſung haben. 43. Nur diejenigen völkerrechtlichen Verträge und Rechtsverhältniſſe, welche ſich weſentlich nicht auf den Stat ſelbſt ſondern nur auf die Per- ſonen beſtimmter Regenten oder Dynaſtien im State beziehen, verlieren durch eine Verfaſſungswandelung ihre Geltung und Wirkſamkeit, wenn jene Perſonen in Folge derſelben ihre Eigenſchaft als Häupter oder Dynaſtien dieſes States einbüßen. Deßhalb haben Verträge eines States mit der Dynaſtie eines andern States, welche den Schutz derſelben bezwecken, nur eine beſchränkte Wirkſamkeit. Wenn trotzdem dieſe Dynaſtie durch eine Revolution geſtürzt oder durch eine Uſurpation beſeitigt wird und die Verfaſſungsänderung ſo vollzogen iſt, daß ein neues Statsrecht zur Wirkſamkeit gelangt iſt, ſo hört auch für den Stat, welcher die geſtürzte Dynaſtie zu ſchützen verſprochen hatte, dieſe Verpflichtung auf. Beiſpiele ſind die Verträge König Ludwigs XIV. von Frankreich mit Jakob II. von England, die Verträge des Kaiſers von Oeſterreich mit dem Bourboniſchen Königshauſe von Neapel und andern Italieniſchen Fürſten, nach der Reſtauration von 1815, die Verabredungen Napoleons III. mit dem Kaiſer Maximilian von Mexico in unſern Tagen. Das Statsrecht wirkt in allen dieſen Dingen ent- ſcheidend und das Völkerrecht wirkt nur nachträglich unter der Vorausſetzung des Statsrechts. 44. Wird eine entthronte oder vertriebene Dynaſtie ſpäter wieder re- ſtaurirt, ſo iſt ſie nicht berechtigt, die völkerrechtlichen Verhältniſſe, welche

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/96>, abgerufen am 29.03.2024.