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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Zweites Buch.
fast die Hälfte seines Gebietes eingebüßt hatte, weil die alten Stammlande er-
halten blieben. Ebenso blieb Frankreich nach den Abtretungen in den beiden
Pariserfrieden 1814/15 und Oesterreich nach dem Verluste der Lombardei 1859
und von Venedig 1866, weil Frankreich nur seine Eroberungen wieder aufgeben
mußte und nicht die italienischen Provinzen, sondern die Donauländer den Kern der
österreichischen Monarchie bilden.

47.

Die Abtretung einer Provinz oder eines andern Theiles des Stats-
gebietes hat insofern auf die völkerrechtlichen Verhältnisse des fortdauernden
States einen Einfluß, als diejenigen Rechte, welche ihm bezüglich des ab-
getretenen Gebietes gegen andere Staten bisher zustanden, und diejenigen
Verpflichtungen, welche ihm bisher mit Rücksicht darauf oblagen, nun von
ihm abgelöst werden und mit der Abtretung auf den Stat übergehen,
welcher dieselbe erwirbt.

Von der Art sind Grenzregulirungen, Bestimmungen über den
Uferbau und die Flußschiffahrt (über Kirchen, Spitäler u. s. f.), offene
Straßen, besondere Provincialschulden.

Man kann diese Rechte und Pflichten, insofern sie einem bestimmten Landes-
theile anhaften, örtliche, und insofern sie einem bestimmten Stamme oder be-
stimmten Personenclassen anhängen, persönliche nennen. Die örtlichen Rechte
und Pflichten sind an den Ort, die persönlichen an die Person gebunden und folgen
dem politischen Schicksale derselben. Im Einzelnen freilich können Zweifel entstehen,
ob der örtliche und persönliche Zusammenhang oder die Beziehung auf den Stat
als wesentlich erscheint. Die im Auftrag der beiden Nachbarstaten gesetzten Mark-
steine zur Bezeichnung der Grenzen gelten natürlich in derselben Weise für die
Grenzländer fort, wenn schon das eine Grenzgebiet einem andern State einverleibt
worden ist. Ebenso verhält es sich mit den Verabredungen zweier Staten über den
Uferschutz, über Anlegung und Unterhaltung von Dämmen, über die Schiffahrt auf
einem bestimmten Flusse, über Landungsplätze u. dgl.; sie beziehen sich auf eine be-
stimmte Oertlichkeit, und wirken fort auch gegenüber dem State, welcher später die
Hoheit über diese Oerter neu erworben hat. Wenn gleich dieser Stat bei der Be-
gründung dieser Rechtsverhältnisse nicht mitgewirkt hat, so kann er doch das neue
Gebiet nur in dem rechtlichen Zustande übernehmen, in dem es sich befindet, d. h.
mit den vorhandenen Ortsrechten und Ortspflichten. Aehnlich verhält
es sich mit den durch Statenverträge garantirten persönlichen Rechten z. B.
einer bestimmten Religionsgenossenschaft auf Ausübung ihres Cultus, mit dem An-
theil, der einer bestimmten Classe von Fremden an der Benützung örtlicher Anstalten
(Krankenheil- und pflegehäuser, Pfründhäuser, Bildungsanstalten u. s. f.) zugesichert
worden ist. Diese Rechte gehen nicht unter, wenn gleich an die Stelle des States,
zu welchem bisher jene Religionsgenossen und diese Anstalten gehörten, ein anderer

Zweites Buch.
faſt die Hälfte ſeines Gebietes eingebüßt hatte, weil die alten Stammlande er-
halten blieben. Ebenſo blieb Frankreich nach den Abtretungen in den beiden
Pariſerfrieden 1814/15 und Oeſterreich nach dem Verluſte der Lombardei 1859
und von Venedig 1866, weil Frankreich nur ſeine Eroberungen wieder aufgeben
mußte und nicht die italieniſchen Provinzen, ſondern die Donauländer den Kern der
öſterreichiſchen Monarchie bilden.

47.

Die Abtretung einer Provinz oder eines andern Theiles des Stats-
gebietes hat inſofern auf die völkerrechtlichen Verhältniſſe des fortdauernden
States einen Einfluß, als diejenigen Rechte, welche ihm bezüglich des ab-
getretenen Gebietes gegen andere Staten bisher zuſtanden, und diejenigen
Verpflichtungen, welche ihm bisher mit Rückſicht darauf oblagen, nun von
ihm abgelöſt werden und mit der Abtretung auf den Stat übergehen,
welcher dieſelbe erwirbt.

Von der Art ſind Grenzregulirungen, Beſtimmungen über den
Uferbau und die Flußſchiffahrt (über Kirchen, Spitäler u. ſ. f.), offene
Straßen, beſondere Provincialſchulden.

Man kann dieſe Rechte und Pflichten, inſofern ſie einem beſtimmten Landes-
theile anhaften, örtliche, und inſofern ſie einem beſtimmten Stamme oder be-
ſtimmten Perſonenclaſſen anhängen, perſönliche nennen. Die örtlichen Rechte
und Pflichten ſind an den Ort, die perſönlichen an die Perſon gebunden und folgen
dem politiſchen Schickſale derſelben. Im Einzelnen freilich können Zweifel entſtehen,
ob der örtliche und perſönliche Zuſammenhang oder die Beziehung auf den Stat
als weſentlich erſcheint. Die im Auftrag der beiden Nachbarſtaten geſetzten Mark-
ſteine zur Bezeichnung der Grenzen gelten natürlich in derſelben Weiſe für die
Grenzländer fort, wenn ſchon das eine Grenzgebiet einem andern State einverleibt
worden iſt. Ebenſo verhält es ſich mit den Verabredungen zweier Staten über den
Uferſchutz, über Anlegung und Unterhaltung von Dämmen, über die Schiffahrt auf
einem beſtimmten Fluſſe, über Landungsplätze u. dgl.; ſie beziehen ſich auf eine be-
ſtimmte Oertlichkeit, und wirken fort auch gegenüber dem State, welcher ſpäter die
Hoheit über dieſe Oerter neu erworben hat. Wenn gleich dieſer Stat bei der Be-
gründung dieſer Rechtsverhältniſſe nicht mitgewirkt hat, ſo kann er doch das neue
Gebiet nur in dem rechtlichen Zuſtande übernehmen, in dem es ſich befindet, d. h.
mit den vorhandenen Ortsrechten und Ortspflichten. Aehnlich verhält
es ſich mit den durch Statenverträge garantirten perſönlichen Rechten z. B.
einer beſtimmten Religionsgenoſſenſchaft auf Ausübung ihres Cultus, mit dem An-
theil, der einer beſtimmten Claſſe von Fremden an der Benützung örtlicher Anſtalten
(Krankenheil- und pflegehäuſer, Pfründhäuſer, Bildungsanſtalten u. ſ. f.) zugeſichert
worden iſt. Dieſe Rechte gehen nicht unter, wenn gleich an die Stelle des States,
zu welchem bisher jene Religionsgenoſſen und dieſe Anſtalten gehörten, ein anderer

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[76/0098] Zweites Buch. faſt die Hälfte ſeines Gebietes eingebüßt hatte, weil die alten Stammlande er- halten blieben. Ebenſo blieb Frankreich nach den Abtretungen in den beiden Pariſerfrieden 1814/15 und Oeſterreich nach dem Verluſte der Lombardei 1859 und von Venedig 1866, weil Frankreich nur ſeine Eroberungen wieder aufgeben mußte und nicht die italieniſchen Provinzen, ſondern die Donauländer den Kern der öſterreichiſchen Monarchie bilden. 47. Die Abtretung einer Provinz oder eines andern Theiles des Stats- gebietes hat inſofern auf die völkerrechtlichen Verhältniſſe des fortdauernden States einen Einfluß, als diejenigen Rechte, welche ihm bezüglich des ab- getretenen Gebietes gegen andere Staten bisher zuſtanden, und diejenigen Verpflichtungen, welche ihm bisher mit Rückſicht darauf oblagen, nun von ihm abgelöſt werden und mit der Abtretung auf den Stat übergehen, welcher dieſelbe erwirbt. Von der Art ſind Grenzregulirungen, Beſtimmungen über den Uferbau und die Flußſchiffahrt (über Kirchen, Spitäler u. ſ. f.), offene Straßen, beſondere Provincialſchulden. Man kann dieſe Rechte und Pflichten, inſofern ſie einem beſtimmten Landes- theile anhaften, örtliche, und inſofern ſie einem beſtimmten Stamme oder be- ſtimmten Perſonenclaſſen anhängen, perſönliche nennen. Die örtlichen Rechte und Pflichten ſind an den Ort, die perſönlichen an die Perſon gebunden und folgen dem politiſchen Schickſale derſelben. Im Einzelnen freilich können Zweifel entſtehen, ob der örtliche und perſönliche Zuſammenhang oder die Beziehung auf den Stat als weſentlich erſcheint. Die im Auftrag der beiden Nachbarſtaten geſetzten Mark- ſteine zur Bezeichnung der Grenzen gelten natürlich in derſelben Weiſe für die Grenzländer fort, wenn ſchon das eine Grenzgebiet einem andern State einverleibt worden iſt. Ebenſo verhält es ſich mit den Verabredungen zweier Staten über den Uferſchutz, über Anlegung und Unterhaltung von Dämmen, über die Schiffahrt auf einem beſtimmten Fluſſe, über Landungsplätze u. dgl.; ſie beziehen ſich auf eine be- ſtimmte Oertlichkeit, und wirken fort auch gegenüber dem State, welcher ſpäter die Hoheit über dieſe Oerter neu erworben hat. Wenn gleich dieſer Stat bei der Be- gründung dieſer Rechtsverhältniſſe nicht mitgewirkt hat, ſo kann er doch das neue Gebiet nur in dem rechtlichen Zuſtande übernehmen, in dem es ſich befindet, d. h. mit den vorhandenen Ortsrechten und Ortspflichten. Aehnlich verhält es ſich mit den durch Statenverträge garantirten perſönlichen Rechten z. B. einer beſtimmten Religionsgenoſſenſchaft auf Ausübung ihres Cultus, mit dem An- theil, der einer beſtimmten Claſſe von Fremden an der Benützung örtlicher Anſtalten (Krankenheil- und pflegehäuſer, Pfründhäuſer, Bildungsanſtalten u. ſ. f.) zugeſichert worden iſt. Dieſe Rechte gehen nicht unter, wenn gleich an die Stelle des States, zu welchem bisher jene Religionsgenoſſen und dieſe Anſtalten gehörten, ein anderer

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/98>, abgerufen am 28.03.2024.