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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 5. Zürich, 1742.

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Von den Dichtungen.
terredungen; bald schencket er den leb- und
vernunftlosen Geschöpfen die Rede; bald führet
er die menschlichen Neigungen und Zufälle, als
so viele Individua und Personen, vor uns auf;
bald giebt er den Fabeln und Mährchen einen
grossen Schein der Wahrheit; bald fällt er in
eine Entzückung, und mahlet uns die seltsamsten
Erscheinungen vor das Gesicht, etc. Alle diese
und andere dergleichen Arten von Dichtungen
sind nun allein erfunden worden, gemeine und be-
kannte Gedancken, auf eine ungemeine, neue und
ergetzende Art auszudrücken u. vorzubilden. Aber
diese Freyheit der Dichtung ist nicht ohne Gesetze;
denn sonst müßte man alle Träumereyen und Aus-
schweifungen verrückter Sinnen vor geistreich und
scharfsinnig erklären. Jch würde mich von mei-
nem gegenwärtigen Vorhaben allzuweit verstei-
gen, wenn ich hier alle Grundregeln der Dichtung
in ihrer ordentlichen Verknüpfung, wie sie aus
einander hergeleitet werden, anführen wollte: ich
verspare diese Untersuchung in mein vorgenomme-
nes grosses Werck. Zu meinem gegenwärtigen
Zweck wird es genug seyn, daß ich bloß die allerer-
sten Grundregeln einer guten Dichtung hier aus-
setze, und hernach mit einigen Exempeln erläutere.

1. Der Zweck der Dichtung ist, daß sie auf eine
ergetzende Art unterrichte:
- - - - - quod & risum movet,
Et quod prudenti vitam consilio monet.
2. Die gantze Dichtung muß einen mystischen
Sinn haben.
3. Sie
[Crit. Samml. V. St.] F

Von den Dichtungen.
terredungen; bald ſchencket er den leb- und
vernunftloſen Geſchoͤpfen die Rede; bald fuͤhret
er die menſchlichen Neigungen und Zufaͤlle, als
ſo viele Individua und Perſonen, vor uns auf;
bald giebt er den Fabeln und Maͤhrchen einen
groſſen Schein der Wahrheit; bald faͤllt er in
eine Entzuͤckung, und mahlet uns die ſeltſamſten
Erſcheinungen vor das Geſicht, ꝛc. Alle dieſe
und andere dergleichen Arten von Dichtungen
ſind nun allein erfunden worden, gemeine und be-
kannte Gedancken, auf eine ungemeine, neue und
ergetzende Art auszudruͤcken u. vorzubilden. Aber
dieſe Freyheit der Dichtung iſt nicht ohne Geſetze;
denn ſonſt muͤßte man alle Traͤumereyen und Aus-
ſchweifungen verruͤckter Sinnen vor geiſtreich und
ſcharfſinnig erklaͤren. Jch wuͤrde mich von mei-
nem gegenwaͤrtigen Vorhaben allzuweit verſtei-
gen, wenn ich hier alle Grundregeln der Dichtung
in ihrer ordentlichen Verknuͤpfung, wie ſie aus
einander hergeleitet werden, anfuͤhren wollte: ich
verſpare dieſe Unterſuchung in mein vorgenomme-
nes groſſes Werck. Zu meinem gegenwaͤrtigen
Zweck wird es genug ſeyn, daß ich bloß die allerer-
ſten Grundregeln einer guten Dichtung hier aus-
ſetze, und hernach mit einigen Exempeln erlaͤutere.

1. Der Zweck der Dichtung iſt, daß ſie auf eine
ergetzende Art unterrichte:
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ quod & riſum movet,
Et quod prudenti vitam conſilio monet.
2. Die gantze Dichtung muß einen myſtiſchen
Sinn haben.
3. Sie
[Crit. Sam̃l. V. St.] F
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[81/0081] Von den Dichtungen. terredungen; bald ſchencket er den leb- und vernunftloſen Geſchoͤpfen die Rede; bald fuͤhret er die menſchlichen Neigungen und Zufaͤlle, als ſo viele Individua und Perſonen, vor uns auf; bald giebt er den Fabeln und Maͤhrchen einen groſſen Schein der Wahrheit; bald faͤllt er in eine Entzuͤckung, und mahlet uns die ſeltſamſten Erſcheinungen vor das Geſicht, ꝛc. Alle dieſe und andere dergleichen Arten von Dichtungen ſind nun allein erfunden worden, gemeine und be- kannte Gedancken, auf eine ungemeine, neue und ergetzende Art auszudruͤcken u. vorzubilden. Aber dieſe Freyheit der Dichtung iſt nicht ohne Geſetze; denn ſonſt muͤßte man alle Traͤumereyen und Aus- ſchweifungen verruͤckter Sinnen vor geiſtreich und ſcharfſinnig erklaͤren. Jch wuͤrde mich von mei- nem gegenwaͤrtigen Vorhaben allzuweit verſtei- gen, wenn ich hier alle Grundregeln der Dichtung in ihrer ordentlichen Verknuͤpfung, wie ſie aus einander hergeleitet werden, anfuͤhren wollte: ich verſpare dieſe Unterſuchung in mein vorgenomme- nes groſſes Werck. Zu meinem gegenwaͤrtigen Zweck wird es genug ſeyn, daß ich bloß die allerer- ſten Grundregeln einer guten Dichtung hier aus- ſetze, und hernach mit einigen Exempeln erlaͤutere. 1. Der Zweck der Dichtung iſt, daß ſie auf eine ergetzende Art unterrichte: ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ quod & riſum movet, Et quod prudenti vitam conſilio monet. 2. Die gantze Dichtung muß einen myſtiſchen Sinn haben. 3. Sie [Crit. Sam̃l. V. St.] F

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 5. Zürich, 1742, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung05_1742/81>, abgerufen am 28.03.2024.