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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Vorwort.

Mein Buch wendet sich an alle, die vernünftig denken
können und den Mut haben, sich eine eigene Weltanschauung zu
bilden. Die Welt ist ein zäher Sauerteig, und wer hindurch
will, darf sich vor keinen Himmeln und vor keinen Höllen scheuen.
Selbstverständlich habe ich an reife Menschen dabei gedacht.
Reif ist aber jeder, der einmal die Erleuchtungsstunde durch¬
lebt hat, da ihm der Drang nach Erkenntnis aufgegangen ist;
da er eingesehen hat, daß dieses ganze flüchtige Menschenleben
mit all seiner Hatz durch die paar Jahre und all seinen Ent¬
täuschungen ein unendlicher Blödsinn ist, wenn wir ihm nicht
einen höheren Sinn durch die Erkenntnis geben, durch das
kleine Lichtstümpfchen "Denken", das uns in all dem Finster¬
graus verliehen ist. Wer Erkenntnis sucht, der geht nackt und
bloß, und es giebt nur ein Kleid, das ihn hüllt: die Wahrheit.
Aber er geht auch mit eiserner Sicherheit auf ein einziges
Lichtziel los, und es sind keine Mißverständnisse für ihn möglich.
Mit ihm kann ich mich vertragen, -- alle anderen sind mir
vollkommen gleichgültig. Das Gerüst von Thatsachen, das ich
gebe, ist mit mehr oder weniger Glück aus dem unabsehbaren
Gebiete moderner physiologischer und zoologischer Forschung
herausgesucht. Die Verknüpfung und philosophische Verwertung
ist durchweg eine subjektive, für die ich allein die Verantwortung
trage. Wer das Thatsachenfeld selber überschaut, den brauche
ich nicht noch besonders zu erinnern, wie sehr die Dinge dort
stündlich im Flusse sind und oft unter den Fingern schon ver¬

Vorwort.

Mein Buch wendet ſich an alle, die vernünftig denken
können und den Mut haben, ſich eine eigene Weltanſchauung zu
bilden. Die Welt iſt ein zäher Sauerteig, und wer hindurch
will, darf ſich vor keinen Himmeln und vor keinen Höllen ſcheuen.
Selbſtverſtändlich habe ich an reife Menſchen dabei gedacht.
Reif iſt aber jeder, der einmal die Erleuchtungsſtunde durch¬
lebt hat, da ihm der Drang nach Erkenntnis aufgegangen iſt;
da er eingeſehen hat, daß dieſes ganze flüchtige Menſchenleben
mit all ſeiner Hatz durch die paar Jahre und all ſeinen Ent¬
täuſchungen ein unendlicher Blödſinn iſt, wenn wir ihm nicht
einen höheren Sinn durch die Erkenntnis geben, durch das
kleine Lichtſtümpfchen „Denken“, das uns in all dem Finſter¬
graus verliehen iſt. Wer Erkenntnis ſucht, der geht nackt und
bloß, und es giebt nur ein Kleid, das ihn hüllt: die Wahrheit.
Aber er geht auch mit eiſerner Sicherheit auf ein einziges
Lichtziel los, und es ſind keine Mißverſtändniſſe für ihn möglich.
Mit ihm kann ich mich vertragen, — alle anderen ſind mir
vollkommen gleichgültig. Das Gerüſt von Thatſachen, das ich
gebe, iſt mit mehr oder weniger Glück aus dem unabſehbaren
Gebiete moderner phyſiologiſcher und zoologiſcher Forſchung
herausgeſucht. Die Verknüpfung und philoſophiſche Verwertung
iſt durchweg eine ſubjektive, für die ich allein die Verantwortung
trage. Wer das Thatſachenfeld ſelber überſchaut, den brauche
ich nicht noch beſonders zu erinnern, wie ſehr die Dinge dort
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[V/0011] Vorwort. Mein Buch wendet ſich an alle, die vernünftig denken können und den Mut haben, ſich eine eigene Weltanſchauung zu bilden. Die Welt iſt ein zäher Sauerteig, und wer hindurch will, darf ſich vor keinen Himmeln und vor keinen Höllen ſcheuen. Selbſtverſtändlich habe ich an reife Menſchen dabei gedacht. Reif iſt aber jeder, der einmal die Erleuchtungsſtunde durch¬ lebt hat, da ihm der Drang nach Erkenntnis aufgegangen iſt; da er eingeſehen hat, daß dieſes ganze flüchtige Menſchenleben mit all ſeiner Hatz durch die paar Jahre und all ſeinen Ent¬ täuſchungen ein unendlicher Blödſinn iſt, wenn wir ihm nicht einen höheren Sinn durch die Erkenntnis geben, durch das kleine Lichtſtümpfchen „Denken“, das uns in all dem Finſter¬ graus verliehen iſt. Wer Erkenntnis ſucht, der geht nackt und bloß, und es giebt nur ein Kleid, das ihn hüllt: die Wahrheit. Aber er geht auch mit eiſerner Sicherheit auf ein einziges Lichtziel los, und es ſind keine Mißverſtändniſſe für ihn möglich. Mit ihm kann ich mich vertragen, — alle anderen ſind mir vollkommen gleichgültig. Das Gerüſt von Thatſachen, das ich gebe, iſt mit mehr oder weniger Glück aus dem unabſehbaren Gebiete moderner phyſiologiſcher und zoologiſcher Forſchung herausgeſucht. Die Verknüpfung und philoſophiſche Verwertung iſt durchweg eine ſubjektive, für die ich allein die Verantwortung trage. Wer das Thatſachenfeld ſelber überſchaut, den brauche ich nicht noch beſonders zu erinnern, wie ſehr die Dinge dort ſtündlich im Fluſſe ſind und oft unter den Fingern ſchon ver¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. V. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/11>, abgerufen am 19.04.2024.