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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Grase liegt und sich von der Goldsonne wieder durchwärmen
läßt, sieht er nicht nach Alter aus. Dein Geist mit seinem
Grübeln scheint dir eher schon etwas grau. Und doch ist es
genau umgekehrt.

Dein Geist ist in Wahrheit nur die paar Jahre alt.
Einsam, jung, frisch, naiv steht er da. Wie ein ganz unbeschriebenes
Blatt ist er plötzlich aufgetaucht. Jetzt ist einiges wohl auch
auf dieses Blatt schon geschrieben: die Erfahrungen von ein
paar Jahren, etwas erlernte Geschichte, die einen kleinen Hori¬
zont weiter rückwärts giebt. Aber im Grunde ist's doch ein
Jüngling, ja ein Kind. Vielleicht ist es das Geheimnis unserer
menschlichen Bewußtheit und wachsenden Individualität, daß
der Geist immer naiv und frei wieder geboren wird als dieses
unbeschriebene Blatt, als das ewige Weltenkind. Vielleicht
ist die weiße Fläche dieses Blattes die wahre Fläche der Ent¬
wickelung, die immer wieder weiß sein muß in dem Gesamt¬
organismus Mensch, damit sich auf ihr wirklich Neues ab¬
präge. Auf alle Fälle aber: gegen diesen deinen Geist ist
dein Leib uralt. Ein eisgrauer Heiliger, in dem das Erinnern
an Urältestes nie erstorben ist.

Bedenke, was dieser Leib alles schon vollbracht hatte, ehe
auch nur die erste winzigste Erinnerungsschrift auf jenes weiße
Bewußtseinsfeld bei dir kam. Im Leibe deiner Mutter hat
er sich selber aufgebaut. Die wunderbarsten Leistungen waren
dazu nötig. Zuerst mußten die beiden Grundsteine seines
Baues dort überhaupt zusammen kommen: Samenzelle und Ei¬
zelle. Sie waren ja ursprünglich über zwei andere Menschen¬
wesen verteilt: die Samenzelle bei dem Vater, die Eizelle bei
der Mutter. So mußten sie erst dort, jeder für sich, eine
Rolle spielen. Durch höchst geheimnisvolle, aber unbedingt
vorhandene Wirkungen mußten sie in den beiden Körpern dort
das hervorbringen, was wir geschlechtliche Erregung nennen.
In einem höchsten Steigerungsmoment, da jene beiden Körper
ausschließlich sich dieser Erregung hingaben -- also gradezu

Graſe liegt und ſich von der Goldſonne wieder durchwärmen
läßt, ſieht er nicht nach Alter aus. Dein Geiſt mit ſeinem
Grübeln ſcheint dir eher ſchon etwas grau. Und doch iſt es
genau umgekehrt.

Dein Geiſt iſt in Wahrheit nur die paar Jahre alt.
Einſam, jung, friſch, naiv ſteht er da. Wie ein ganz unbeſchriebenes
Blatt iſt er plötzlich aufgetaucht. Jetzt iſt einiges wohl auch
auf dieſes Blatt ſchon geſchrieben: die Erfahrungen von ein
paar Jahren, etwas erlernte Geſchichte, die einen kleinen Hori¬
zont weiter rückwärts giebt. Aber im Grunde iſt's doch ein
Jüngling, ja ein Kind. Vielleicht iſt es das Geheimnis unſerer
menſchlichen Bewußtheit und wachſenden Individualität, daß
der Geiſt immer naiv und frei wieder geboren wird als dieſes
unbeſchriebene Blatt, als das ewige Weltenkind. Vielleicht
iſt die weiße Fläche dieſes Blattes die wahre Fläche der Ent¬
wickelung, die immer wieder weiß ſein muß in dem Geſamt¬
organismus Menſch, damit ſich auf ihr wirklich Neues ab¬
präge. Auf alle Fälle aber: gegen dieſen deinen Geiſt iſt
dein Leib uralt. Ein eisgrauer Heiliger, in dem das Erinnern
an Urälteſtes nie erſtorben iſt.

Bedenke, was dieſer Leib alles ſchon vollbracht hatte, ehe
auch nur die erſte winzigſte Erinnerungsſchrift auf jenes weiße
Bewußtſeinsfeld bei dir kam. Im Leibe deiner Mutter hat
er ſich ſelber aufgebaut. Die wunderbarſten Leiſtungen waren
dazu nötig. Zuerſt mußten die beiden Grundſteine ſeines
Baues dort überhaupt zuſammen kommen: Samenzelle und Ei¬
zelle. Sie waren ja urſprünglich über zwei andere Menſchen¬
weſen verteilt: die Samenzelle bei dem Vater, die Eizelle bei
der Mutter. So mußten ſie erſt dort, jeder für ſich, eine
Rolle ſpielen. Durch höchſt geheimnisvolle, aber unbedingt
vorhandene Wirkungen mußten ſie in den beiden Körpern dort
das hervorbringen, was wir geſchlechtliche Erregung nennen.
In einem höchſten Steigerungsmoment, da jene beiden Körper
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[45/0061] Graſe liegt und ſich von der Goldſonne wieder durchwärmen läßt, ſieht er nicht nach Alter aus. Dein Geiſt mit ſeinem Grübeln ſcheint dir eher ſchon etwas grau. Und doch iſt es genau umgekehrt. Dein Geiſt iſt in Wahrheit nur die paar Jahre alt. Einſam, jung, friſch, naiv ſteht er da. Wie ein ganz unbeſchriebenes Blatt iſt er plötzlich aufgetaucht. Jetzt iſt einiges wohl auch auf dieſes Blatt ſchon geſchrieben: die Erfahrungen von ein paar Jahren, etwas erlernte Geſchichte, die einen kleinen Hori¬ zont weiter rückwärts giebt. Aber im Grunde iſt's doch ein Jüngling, ja ein Kind. Vielleicht iſt es das Geheimnis unſerer menſchlichen Bewußtheit und wachſenden Individualität, daß der Geiſt immer naiv und frei wieder geboren wird als dieſes unbeſchriebene Blatt, als das ewige Weltenkind. Vielleicht iſt die weiße Fläche dieſes Blattes die wahre Fläche der Ent¬ wickelung, die immer wieder weiß ſein muß in dem Geſamt¬ organismus Menſch, damit ſich auf ihr wirklich Neues ab¬ präge. Auf alle Fälle aber: gegen dieſen deinen Geiſt iſt dein Leib uralt. Ein eisgrauer Heiliger, in dem das Erinnern an Urälteſtes nie erſtorben iſt. Bedenke, was dieſer Leib alles ſchon vollbracht hatte, ehe auch nur die erſte winzigſte Erinnerungsſchrift auf jenes weiße Bewußtſeinsfeld bei dir kam. Im Leibe deiner Mutter hat er ſich ſelber aufgebaut. Die wunderbarſten Leiſtungen waren dazu nötig. Zuerſt mußten die beiden Grundſteine ſeines Baues dort überhaupt zuſammen kommen: Samenzelle und Ei¬ zelle. Sie waren ja urſprünglich über zwei andere Menſchen¬ weſen verteilt: die Samenzelle bei dem Vater, die Eizelle bei der Mutter. So mußten ſie erſt dort, jeder für ſich, eine Rolle ſpielen. Durch höchſt geheimnisvolle, aber unbedingt vorhandene Wirkungen mußten ſie in den beiden Körpern dort das hervorbringen, was wir geſchlechtliche Erregung nennen. In einem höchſten Steigerungsmoment, da jene beiden Körper ausſchließlich ſich dieſer Erregung hingaben — alſo gradezu

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/61>, abgerufen am 19.04.2024.