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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832.

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Mitten im Satze, der die vorige Seite endigt,
wurde ich gestern unterbrochen und heute habe ich ver¬
gessen, was ich sagen wollte. Als ich sah, wie die
edle Gesinnung der Jugend sich hier so frei und laut
äußern durfte, und Keiner wagte, sich ihr zu wider¬
setzen, fragte ich mich: träume ich denn, ist es Wahr¬
heit? Liegt Frankreich in dem nehmlichen Europa,
in dem auch Deutschland liegt? Ein Fluß, über den
jeder Hase schwimmt, kann er die Freiheit von der
Tyrannei abhalten, oder Sklaven, herüber zu kom¬
men? Unsere deutschen Polizei-Aerzte würden gewal¬
tig zornig werden, wenn sie den Lärm gehört: sie
würden sagen, die Regierung sollte nicht dulden, daß
man im Theater so die Leidenschaften aufrege. Aber
sie irren sich; das besänftigt gerade gereizte Leiden¬
schaft. Ich habe das an mir selbst erfahren. Noch
Morgens, da ich mein Journal las und mich wie
gewöhnlich über die seelenlose Deputirten-Kammer
ärgerte, welche der französischen Jugend gern alles
Blut auspumpen möchte, hatte ich den sehnlichsten
Wunsch, den hochmüthigen Deutschen Pedanten Ro¬


Mitten im Satze, der die vorige Seite endigt,
wurde ich geſtern unterbrochen und heute habe ich ver¬
geſſen, was ich ſagen wollte. Als ich ſah, wie die
edle Geſinnung der Jugend ſich hier ſo frei und laut
äußern durfte, und Keiner wagte, ſich ihr zu wider¬
ſetzen, fragte ich mich: träume ich denn, iſt es Wahr¬
heit? Liegt Frankreich in dem nehmlichen Europa,
in dem auch Deutſchland liegt? Ein Fluß, über den
jeder Haſe ſchwimmt, kann er die Freiheit von der
Tyrannei abhalten, oder Sklaven, herüber zu kom¬
men? Unſere deutſchen Polizei-Aerzte würden gewal¬
tig zornig werden, wenn ſie den Lärm gehört: ſie
würden ſagen, die Regierung ſollte nicht dulden, daß
man im Theater ſo die Leidenſchaften aufrege. Aber
ſie irren ſich; das beſänftigt gerade gereizte Leiden¬
ſchaft. Ich habe das an mir ſelbſt erfahren. Noch
Morgens, da ich mein Journal las und mich wie
gewöhnlich über die ſeelenloſe Deputirten-Kammer
ärgerte, welche der franzöſiſchen Jugend gern alles
Blut auspumpen möchte, hatte ich den ſehnlichſten
Wunſch, den hochmüthigen Deutſchen Pedanten Ro¬

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[191/0205] Freitag, den 14. Januar. Mitten im Satze, der die vorige Seite endigt, wurde ich geſtern unterbrochen und heute habe ich ver¬ geſſen, was ich ſagen wollte. Als ich ſah, wie die edle Geſinnung der Jugend ſich hier ſo frei und laut äußern durfte, und Keiner wagte, ſich ihr zu wider¬ ſetzen, fragte ich mich: träume ich denn, iſt es Wahr¬ heit? Liegt Frankreich in dem nehmlichen Europa, in dem auch Deutſchland liegt? Ein Fluß, über den jeder Haſe ſchwimmt, kann er die Freiheit von der Tyrannei abhalten, oder Sklaven, herüber zu kom¬ men? Unſere deutſchen Polizei-Aerzte würden gewal¬ tig zornig werden, wenn ſie den Lärm gehört: ſie würden ſagen, die Regierung ſollte nicht dulden, daß man im Theater ſo die Leidenſchaften aufrege. Aber ſie irren ſich; das beſänftigt gerade gereizte Leiden¬ ſchaft. Ich habe das an mir ſelbſt erfahren. Noch Morgens, da ich mein Journal las und mich wie gewöhnlich über die ſeelenloſe Deputirten-Kammer ärgerte, welche der franzöſiſchen Jugend gern alles Blut auspumpen möchte, hatte ich den ſehnlichſten Wunſch, den hochmüthigen Deutſchen Pedanten Ro¬

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/205>, abgerufen am 19.04.2024.