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Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789.

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terwiesen; ein gar geschicktes Bürschlin, der die Bi-
bel und den Catecist vollkommen inne hatte. Mit
dem macht' ich um diese Zeit Bekanntschaft. Von
Angesicht war er zwar etwas häßlich; die Kinder-
blattern hatten ihn jämmerlich zugerichtet; aber sonst
ein Kind wie die liebe Stunde. Er hatte einen ge-
sprächigen Vater, von dem er viel lernte, der aber
daneben nicht der Beßte, und besonders als ein
Erzlüger berühmt war. Der konnt' Euch Stunden
lang die abentheurlichsten Dinge erzählen, die weder
gestoben noch geflogen waren; so daß es zum Sprüch-
wort wurde, wenn einer etwas Unwahrscheinliches
sagt: "Das ist ein W. -- Lug!" Wenn er redete,
rutschte er auf dem Hintern beständig hin und her.
Von seinen Fehlern hatte sein kleiner J. keinen ge-
erbt; das Lügen am allerwenigsten. Jedermann liebte
ihn. Mir war er die Kron in Augen. Wir fiengen
an über allerley Sachen kleine Brieflin zu wechseln,
gaben einander Räthsel auf, oder schrieben uns Verse
aus der Bibel zu, ohne Spezification wo sie stühn-
den; da mußte dann ein jeder selbst nachschlagen. Oft
hielt es sehr schwer, oder gar unmöglich; in den
Psalmen und Propheten zumal, wo die Verslin meist
erstaunlich kurz, und viele fast gleichlautend sind.
Bisweilen schrieben wir einander von allen Thieren,
welche uns die liebsten seyen; dann von allerhand Spei-
sen, welche uns die beßten dünken; dann wieder von
Kleidungsstücken, Zeug und Farben, welche uns die
angenehmsten wären, u. s. f. Und da bemühte sich
je einer den andern an Anmuth zu übertreffen. Oft

D

terwieſen; ein gar geſchicktes Buͤrſchlin, der die Bi-
bel und den Cateciſt vollkommen inne hatte. Mit
dem macht’ ich um dieſe Zeit Bekanntſchaft. Von
Angeſicht war er zwar etwas haͤßlich; die Kinder-
blattern hatten ihn jaͤmmerlich zugerichtet; aber ſonſt
ein Kind wie die liebe Stunde. Er hatte einen ge-
ſpraͤchigen Vater, von dem er viel lernte, der aber
daneben nicht der Beßte, und beſonders als ein
Erzluͤger beruͤhmt war. Der konnt’ Euch Stunden
lang die abentheurlichſten Dinge erzaͤhlen, die weder
geſtoben noch geflogen waren; ſo daß es zum Spruͤch-
wort wurde, wenn einer etwas Unwahrſcheinliches
ſagt: „Das iſt ein W. — Lug!„ Wenn er redete,
rutſchte er auf dem Hintern beſtaͤndig hin und her.
Von ſeinen Fehlern hatte ſein kleiner J. keinen ge-
erbt; das Luͤgen am allerwenigſten. Jedermann liebte
ihn. Mir war er die Kron in Augen. Wir fiengen
an uͤber allerley Sachen kleine Brieflin zu wechſeln,
gaben einander Raͤthſel auf, oder ſchrieben uns Verſe
aus der Bibel zu, ohne Spezification wo ſie ſtuͤhn-
den; da mußte dann ein jeder ſelbſt nachſchlagen. Oft
hielt es ſehr ſchwer, oder gar unmoͤglich; in den
Pſalmen und Propheten zumal, wo die Verslin meiſt
erſtaunlich kurz, und viele faſt gleichlautend ſind.
Bisweilen ſchrieben wir einander von allen Thieren,
welche uns die liebſten ſeyen; dann von allerhand Spei-
ſen, welche uns die beßten duͤnken; dann wieder von
Kleidungsſtuͤcken, Zeug und Farben, welche uns die
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je einer den andern an Anmuth zu uͤbertreffen. Oft

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[49/0065] terwieſen; ein gar geſchicktes Buͤrſchlin, der die Bi- bel und den Cateciſt vollkommen inne hatte. Mit dem macht’ ich um dieſe Zeit Bekanntſchaft. Von Angeſicht war er zwar etwas haͤßlich; die Kinder- blattern hatten ihn jaͤmmerlich zugerichtet; aber ſonſt ein Kind wie die liebe Stunde. Er hatte einen ge- ſpraͤchigen Vater, von dem er viel lernte, der aber daneben nicht der Beßte, und beſonders als ein Erzluͤger beruͤhmt war. Der konnt’ Euch Stunden lang die abentheurlichſten Dinge erzaͤhlen, die weder geſtoben noch geflogen waren; ſo daß es zum Spruͤch- wort wurde, wenn einer etwas Unwahrſcheinliches ſagt: „Das iſt ein W. — Lug!„ Wenn er redete, rutſchte er auf dem Hintern beſtaͤndig hin und her. Von ſeinen Fehlern hatte ſein kleiner J. keinen ge- erbt; das Luͤgen am allerwenigſten. Jedermann liebte ihn. Mir war er die Kron in Augen. Wir fiengen an uͤber allerley Sachen kleine Brieflin zu wechſeln, gaben einander Raͤthſel auf, oder ſchrieben uns Verſe aus der Bibel zu, ohne Spezification wo ſie ſtuͤhn- den; da mußte dann ein jeder ſelbſt nachſchlagen. Oft hielt es ſehr ſchwer, oder gar unmoͤglich; in den Pſalmen und Propheten zumal, wo die Verslin meiſt erſtaunlich kurz, und viele faſt gleichlautend ſind. Bisweilen ſchrieben wir einander von allen Thieren, welche uns die liebſten ſeyen; dann von allerhand Spei- ſen, welche uns die beßten duͤnken; dann wieder von Kleidungsſtuͤcken, Zeug und Farben, welche uns die angenehmſten waͤren, u. ſ. f. Und da bemuͤhte ſich je einer den andern an Anmuth zu uͤbertreffen. Oft D

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Zitationshilfe: Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/65>, abgerufen am 25.04.2024.