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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830.

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Wasser wächst, und je mehr sein gleichmäßiger Eintritt durch Un-
tiefen gehindert wird, desto auffallender und heftiger muß das
Steigen des Wassers, wenn es nun auf einmal erfolgt, in dem
engern Strome sein, in welchen eine große Wassermasse sich so
plötzlich hineindrängt.

Andre Ströme zeigen ähnliche Erscheinungen, und wenn ich
Noyer's Beschreibung der im Amazonenflusse unter dem Namen
Barre bekannten ungestümen Bewegungen richtig verstehe, so
muß sich dort dieses Schwanken noch auffallender zeigen, indem
er es als ein heftiges Zusammentreffen des Flußwassers mit dem
Seewasser, als einen Kampf entgegengesetzter Kräfte schildert, was
sich wenigstens so auslegen läßt, als ob die aus dem weiten Theile
der Mündung in den engen Strom gedrängte Wassermasse hier
ein Anschwellen über den Gleichgewichtszustand, dann eine zurück-
gehende Oscillation, einen abermaligen Zusturz, kurz ein heftiges
Schwanken in einer engen Röhre durch eine mäßige Aenderung
des Wasserstandes in der weiteren Röhre, hervorbringt.

Etwas Aehnliches scheint die Ursache der zwar seltenen, aber
zerstörenden Fluthen zu sein, die zuweilen Petersburg betroffen
haben. Die enge Newa ist eine Fortsetzung des Kronstädter
Meerbusens, der selbst eine Verlängerung des noch weiteren finni-
schen Meerbusens bildet. Wird nun vom Sturme eine große Was-
sermasse, die im Finnischen Meerbusen nur eine mäßige Erhöhung
der Oberfläche bildet, in den Kronstädter Meerbusen und in die
engere Newa gedrängt, so kann, bei sehr schnellem Eindringen, das
Wasser über das Niveau des Meerbusens steigen und die sehr plötz-
lichen Ueberschwemmungen bewirken, wovon die Fluth am 19. Nov.
1824. ein Beispiel gab. Auch die nicht so seltnen Sturmfluthen
an den holländischen und deutschen Küsten der Nordsee lassen sich,
wenigstens da, wo ein Eindringen in einen engern Raum statt
findet, hiemit vergleichen, und die oft gemachte Bemerkung, daß
bei den Sturmfluthen das Wasser plötzlich wächst, dann geraume
Zeit gleiche Höhe behält oder wohl gar ein wenig abzunehmen scheint,
und nach einiger Zeit wieder stärker andringt, scheint auf solche
Oscillationen hinzudeuten *).


*) Gilb. Ann. XXXIII. 407. Meine Unterhaltungen über Physik.
1. Zs Heft.
I. M

Waſſer waͤchſt, und je mehr ſein gleichmaͤßiger Eintritt durch Un-
tiefen gehindert wird, deſto auffallender und heftiger muß das
Steigen des Waſſers, wenn es nun auf einmal erfolgt, in dem
engern Strome ſein, in welchen eine große Waſſermaſſe ſich ſo
ploͤtzlich hineindraͤngt.

Andre Stroͤme zeigen aͤhnliche Erſcheinungen, und wenn ich
Noyer's Beſchreibung der im Amazonenfluſſe unter dem Namen
Barre bekannten ungeſtuͤmen Bewegungen richtig verſtehe, ſo
muß ſich dort dieſes Schwanken noch auffallender zeigen, indem
er es als ein heftiges Zuſammentreffen des Flußwaſſers mit dem
Seewaſſer, als einen Kampf entgegengeſetzter Kraͤfte ſchildert, was
ſich wenigſtens ſo auslegen laͤßt, als ob die aus dem weiten Theile
der Muͤndung in den engen Strom gedraͤngte Waſſermaſſe hier
ein Anſchwellen uͤber den Gleichgewichtszuſtand, dann eine zuruͤck-
gehende Oſcillation, einen abermaligen Zuſturz, kurz ein heftiges
Schwanken in einer engen Roͤhre durch eine maͤßige Aenderung
des Waſſerſtandes in der weiteren Roͤhre, hervorbringt.

Etwas Aehnliches ſcheint die Urſache der zwar ſeltenen, aber
zerſtoͤrenden Fluthen zu ſein, die zuweilen Petersburg betroffen
haben. Die enge Newa iſt eine Fortſetzung des Kronſtaͤdter
Meerbuſens, der ſelbſt eine Verlaͤngerung des noch weiteren finni-
ſchen Meerbuſens bildet. Wird nun vom Sturme eine große Waſ-
ſermaſſe, die im Finniſchen Meerbuſen nur eine maͤßige Erhoͤhung
der Oberflaͤche bildet, in den Kronſtaͤdter Meerbuſen und in die
engere Newa gedraͤngt, ſo kann, bei ſehr ſchnellem Eindringen, das
Waſſer uͤber das Niveau des Meerbuſens ſteigen und die ſehr ploͤtz-
lichen Ueberſchwemmungen bewirken, wovon die Fluth am 19. Nov.
1824. ein Beiſpiel gab. Auch die nicht ſo ſeltnen Sturmfluthen
an den hollaͤndiſchen und deutſchen Kuͤſten der Nordſee laſſen ſich,
wenigſtens da, wo ein Eindringen in einen engern Raum ſtatt
findet, hiemit vergleichen, und die oft gemachte Bemerkung, daß
bei den Sturmfluthen das Waſſer ploͤtzlich waͤchſt, dann geraume
Zeit gleiche Hoͤhe behaͤlt oder wohl gar ein wenig abzunehmen ſcheint,
und nach einiger Zeit wieder ſtaͤrker andringt, ſcheint auf ſolche
Oſcillationen hinzudeuten *).


*) Gilb. Ann. XXXIII. 407. Meine Unterhaltungen uͤber Phyſik.
1. Zſ Heft.
I. M
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[177/0199] Waſſer waͤchſt, und je mehr ſein gleichmaͤßiger Eintritt durch Un- tiefen gehindert wird, deſto auffallender und heftiger muß das Steigen des Waſſers, wenn es nun auf einmal erfolgt, in dem engern Strome ſein, in welchen eine große Waſſermaſſe ſich ſo ploͤtzlich hineindraͤngt. Andre Stroͤme zeigen aͤhnliche Erſcheinungen, und wenn ich Noyer's Beſchreibung der im Amazonenfluſſe unter dem Namen Barre bekannten ungeſtuͤmen Bewegungen richtig verſtehe, ſo muß ſich dort dieſes Schwanken noch auffallender zeigen, indem er es als ein heftiges Zuſammentreffen des Flußwaſſers mit dem Seewaſſer, als einen Kampf entgegengeſetzter Kraͤfte ſchildert, was ſich wenigſtens ſo auslegen laͤßt, als ob die aus dem weiten Theile der Muͤndung in den engen Strom gedraͤngte Waſſermaſſe hier ein Anſchwellen uͤber den Gleichgewichtszuſtand, dann eine zuruͤck- gehende Oſcillation, einen abermaligen Zuſturz, kurz ein heftiges Schwanken in einer engen Roͤhre durch eine maͤßige Aenderung des Waſſerſtandes in der weiteren Roͤhre, hervorbringt. Etwas Aehnliches ſcheint die Urſache der zwar ſeltenen, aber zerſtoͤrenden Fluthen zu ſein, die zuweilen Petersburg betroffen haben. Die enge Newa iſt eine Fortſetzung des Kronſtaͤdter Meerbuſens, der ſelbſt eine Verlaͤngerung des noch weiteren finni- ſchen Meerbuſens bildet. Wird nun vom Sturme eine große Waſ- ſermaſſe, die im Finniſchen Meerbuſen nur eine maͤßige Erhoͤhung der Oberflaͤche bildet, in den Kronſtaͤdter Meerbuſen und in die engere Newa gedraͤngt, ſo kann, bei ſehr ſchnellem Eindringen, das Waſſer uͤber das Niveau des Meerbuſens ſteigen und die ſehr ploͤtz- lichen Ueberſchwemmungen bewirken, wovon die Fluth am 19. Nov. 1824. ein Beiſpiel gab. Auch die nicht ſo ſeltnen Sturmfluthen an den hollaͤndiſchen und deutſchen Kuͤſten der Nordſee laſſen ſich, wenigſtens da, wo ein Eindringen in einen engern Raum ſtatt findet, hiemit vergleichen, und die oft gemachte Bemerkung, daß bei den Sturmfluthen das Waſſer ploͤtzlich waͤchſt, dann geraume Zeit gleiche Hoͤhe behaͤlt oder wohl gar ein wenig abzunehmen ſcheint, und nach einiger Zeit wieder ſtaͤrker andringt, ſcheint auf ſolche Oſcillationen hinzudeuten *). *) Gilb. Ann. XXXIII. 407. Meine Unterhaltungen uͤber Phyſik. 1. Zſ Heft. I. M

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Zitationshilfe: Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830/199>, abgerufen am 24.04.2024.