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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Sirenen.
platte an der Junenseite des Unterkiefers und am Gaumen besaß. Hinsichtlich des innern Knochen-
baues ähneln die ersteren noch immer den höheren Säugethieren. Jhre 7 Halswirbel sind noch
sämmtlich beweglich; auf sie folgen 17 bis 18 Nückenwirbel, 3 Lenden- und mehr als 20 Schwanz-
wirbel. Das Schulterblatt ist stark, der Arm und die Hände noch vollkommen ausgebildet. Jm Ge-
biß fehlen die Eck- und meist auch die Schneidezähne; die Backenzähne sind verschiedenartig gestaltet,
durchschnittlich aber sehr einfach und stumpf.

Seichte Ufer und Meerbuchten heißer Länder, Flußmündungen und die Ströme selbst, zumal
deren Untiefen, sind die Wohnsitze und Aufenthaltsorte der Sirenen. Jn dem gemäßigten Gürtel
scheinen sie nur ausnahmsweise vorzukommen; doch können wir hierüber nichts Sicheres sagen, weil
sie der Beobachtung sehr entzogen sind. Dagegen wissen wir, daß ihr Aufenthalt nicht immer der-
selbe ist; sie wandern oft viele Meilen weit, unter anderem auch bis tief in das Jnnere der Länder,
bis in Seen, welche mit großen Flüssen in Verbindung stehen. Man trifft sie entweder paarweise
oder in kleinen Gesellschaften an; doch wird behauptet, daß sie in strenger Ehe leben und ein Männ-
chen sich immer mit seinem Weibchen zusammenhalte. Sie sind schon weit mehr Seethiere als die
Robben; denn nur sehr ausnahmsweise schieben sie zuweilen ihren massigen Leib über den Saum des
Wasserspiegels heraus. Die Gewandtheit anderer Seesäugethiere geht ihnen ab; sie schwimmen und
tauchen zwar vortrefflich, meiden aber doch größere Tiefen, wahrscheinlich weil sie zu abwechselndem
Auf- und Niedersteigen zu unbeholfen sind. Schwimmend erheben sie oft den Kopf und einen Theil
des Oberleibes über den Wasserspiegel, wie die märchenhaften Seejungfern es gethan. Auf trockenem
Lande schleppen sie sich mit der allergrößten Anstrengung kurze Strecken dahin; ihre Flossenbeine sind
viel zu schwach, um die Masse des Körpers zu bewältigen, und dieser besitzt auch nicht die Biegsam-
keit des Seehundleibes, welcher, wie wir sahen, ein Fortgleiten ermöglicht.

Seepflanzen, Tange und Gräser, welche in Untiefen oder hart am Ufer wachsen, sowie verschie-
dene Wasserpflanzen, welche auf seichten Stellen der Flüsse wuchern, bilden die ausschließliche Nah-
rung der Sirenen: sie und das Borkenthier sind also die einzigen Seesäugethiere, welche Pflanzen-
nahrung verzehren. Jhre Weide mähen sie mit den dicken Lippen ab und schlingen, wie das Nilpferd,
ganze Mengen auf ein Mal in den weiten Schlund hinab. Ungeheuer und ganz unjungferlich unbe-
scheiden ist ihre Gefräßigkeit. Sie treibt die Seeweiber an, saftige Gräser, welche außerhalb des Wassers
am Uferrande der Flüsse stehen, abzuweiden; sie wird oft auch zum Verräther der Thiere, weil die
Losung, in Form und Aussehen dem Rindermist ähnelnd, da, wo sich Sirenen aufhalten, in großer
Menge die Oberfläche des Wassers bedeckt.

Wie alle gefräßigen Geschöpfe sind auch die Sirenen träge, stumpfsinnige und schwachgeistige
Wesen. Man nennt sie friedlich und harmlos und will damit sagen, daß sie Nichts weiter thun, als
fressen und ruhen. Weder furchtsam noch kühn leben sie mit allen übrigen Thieren im Frieden;
sie bekümmern sich überhaupt um Nichts weiter, als um ihre Nahrung. Jhr Verstand ist außer-
ordentlich gering; an dem wirklichen Vorhandensein desselben darf aber nicht gezweifelt werden.
Beide Geschlechter zeigen eine große Aehnlichkeit an einander und suchen sich gegenseitig zu vertheidigen
und zu schützen. Die Mütter pflegen ihre Kinder mit viel Liebe und Sorgfalt und tragen sie sogar,
was kaum möglich scheint, wie Menschenweiber an der Brust, während sie säugen. Eine ihrer
Finnen muß den Arm vertreten; mit ihr drücken sie die Kleinen gegen ihren dicken Leib. Bei Gefahr
oder im Schmerz entrollen ihren Augen Thränen; gleichwohl würde es gewagt sein, von diesen
Thränen auf eine besondere Empfindsamkeit der Seele zu schließen. Die Thränen unserer
Sirenen haben mit jenen der Heldinnen des Märchens keine Aehnlichkeit: sie sind bedeutungslos.
Auch die Stimme der Manaten erinnert durchaus nicht an den Gesang der Meerweiber; sie besteht
nur in einem schwachen, dumpfen Stöhnen. Während des Athmens vernimmt man auch noch ein
heftiges Schnauben.

Wirklich auffallend ist, daß diese Geschöpfe die Gefangenschaft ertragen können; sie sollen sogar
einen ziemlich hohen Grad von Zähmung annehmen.

Die Sirenen.
platte an der Junenſeite des Unterkiefers und am Gaumen beſaß. Hinſichtlich des innern Knochen-
baues ähneln die erſteren noch immer den höheren Säugethieren. Jhre 7 Halswirbel ſind noch
ſämmtlich beweglich; auf ſie folgen 17 bis 18 Nückenwirbel, 3 Lenden- und mehr als 20 Schwanz-
wirbel. Das Schulterblatt iſt ſtark, der Arm und die Hände noch vollkommen ausgebildet. Jm Ge-
biß fehlen die Eck- und meiſt auch die Schneidezähne; die Backenzähne ſind verſchiedenartig geſtaltet,
durchſchnittlich aber ſehr einfach und ſtumpf.

Seichte Ufer und Meerbuchten heißer Länder, Flußmündungen und die Ströme ſelbſt, zumal
deren Untiefen, ſind die Wohnſitze und Aufenthaltsorte der Sirenen. Jn dem gemäßigten Gürtel
ſcheinen ſie nur ausnahmsweiſe vorzukommen; doch können wir hierüber nichts Sicheres ſagen, weil
ſie der Beobachtung ſehr entzogen ſind. Dagegen wiſſen wir, daß ihr Aufenthalt nicht immer der-
ſelbe iſt; ſie wandern oft viele Meilen weit, unter anderem auch bis tief in das Jnnere der Länder,
bis in Seen, welche mit großen Flüſſen in Verbindung ſtehen. Man trifft ſie entweder paarweiſe
oder in kleinen Geſellſchaften an; doch wird behauptet, daß ſie in ſtrenger Ehe leben und ein Männ-
chen ſich immer mit ſeinem Weibchen zuſammenhalte. Sie ſind ſchon weit mehr Seethiere als die
Robben; denn nur ſehr ausnahmsweiſe ſchieben ſie zuweilen ihren maſſigen Leib über den Saum des
Waſſerſpiegels heraus. Die Gewandtheit anderer Seeſäugethiere geht ihnen ab; ſie ſchwimmen und
tauchen zwar vortrefflich, meiden aber doch größere Tiefen, wahrſcheinlich weil ſie zu abwechſelndem
Auf- und Niederſteigen zu unbeholfen ſind. Schwimmend erheben ſie oft den Kopf und einen Theil
des Oberleibes über den Waſſerſpiegel, wie die märchenhaften Seejungfern es gethan. Auf trockenem
Lande ſchleppen ſie ſich mit der allergrößten Anſtrengung kurze Strecken dahin; ihre Floſſenbeine ſind
viel zu ſchwach, um die Maſſe des Körpers zu bewältigen, und dieſer beſitzt auch nicht die Biegſam-
keit des Seehundleibes, welcher, wie wir ſahen, ein Fortgleiten ermöglicht.

Seepflanzen, Tange und Gräſer, welche in Untiefen oder hart am Ufer wachſen, ſowie verſchie-
dene Waſſerpflanzen, welche auf ſeichten Stellen der Flüſſe wuchern, bilden die ausſchließliche Nah-
rung der Sirenen: ſie und das Borkenthier ſind alſo die einzigen Seeſäugethiere, welche Pflanzen-
nahrung verzehren. Jhre Weide mähen ſie mit den dicken Lippen ab und ſchlingen, wie das Nilpferd,
ganze Mengen auf ein Mal in den weiten Schlund hinab. Ungeheuer und ganz unjungferlich unbe-
ſcheiden iſt ihre Gefräßigkeit. Sie treibt die Seeweiber an, ſaftige Gräſer, welche außerhalb des Waſſers
am Uferrande der Flüſſe ſtehen, abzuweiden; ſie wird oft auch zum Verräther der Thiere, weil die
Loſung, in Form und Ausſehen dem Rindermiſt ähnelnd, da, wo ſich Sirenen aufhalten, in großer
Menge die Oberfläche des Waſſers bedeckt.

Wie alle gefräßigen Geſchöpfe ſind auch die Sirenen träge, ſtumpfſinnige und ſchwachgeiſtige
Weſen. Man nennt ſie friedlich und harmlos und will damit ſagen, daß ſie Nichts weiter thun, als
freſſen und ruhen. Weder furchtſam noch kühn leben ſie mit allen übrigen Thieren im Frieden;
ſie bekümmern ſich überhaupt um Nichts weiter, als um ihre Nahrung. Jhr Verſtand iſt außer-
ordentlich gering; an dem wirklichen Vorhandenſein deſſelben darf aber nicht gezweifelt werden.
Beide Geſchlechter zeigen eine große Aehnlichkeit an einander und ſuchen ſich gegenſeitig zu vertheidigen
und zu ſchützen. Die Mütter pflegen ihre Kinder mit viel Liebe und Sorgfalt und tragen ſie ſogar,
was kaum möglich ſcheint, wie Menſchenweiber an der Bruſt, während ſie ſäugen. Eine ihrer
Finnen muß den Arm vertreten; mit ihr drücken ſie die Kleinen gegen ihren dicken Leib. Bei Gefahr
oder im Schmerz entrollen ihren Augen Thränen; gleichwohl würde es gewagt ſein, von dieſen
Thränen auf eine beſondere Empfindſamkeit der Seele zu ſchließen. Die Thränen unſerer
Sirenen haben mit jenen der Heldinnen des Märchens keine Aehnlichkeit: ſie ſind bedeutungslos.
Auch die Stimme der Manaten erinnert durchaus nicht an den Geſang der Meerweiber; ſie beſteht
nur in einem ſchwachen, dumpfen Stöhnen. Während des Athmens vernimmt man auch noch ein
heftiges Schnauben.

Wirklich auffallend iſt, daß dieſe Geſchöpfe die Gefangenſchaft ertragen können; ſie ſollen ſogar
einen ziemlich hohen Grad von Zähmung annehmen.

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[814/0862] Die Sirenen. platte an der Junenſeite des Unterkiefers und am Gaumen beſaß. Hinſichtlich des innern Knochen- baues ähneln die erſteren noch immer den höheren Säugethieren. Jhre 7 Halswirbel ſind noch ſämmtlich beweglich; auf ſie folgen 17 bis 18 Nückenwirbel, 3 Lenden- und mehr als 20 Schwanz- wirbel. Das Schulterblatt iſt ſtark, der Arm und die Hände noch vollkommen ausgebildet. Jm Ge- biß fehlen die Eck- und meiſt auch die Schneidezähne; die Backenzähne ſind verſchiedenartig geſtaltet, durchſchnittlich aber ſehr einfach und ſtumpf. Seichte Ufer und Meerbuchten heißer Länder, Flußmündungen und die Ströme ſelbſt, zumal deren Untiefen, ſind die Wohnſitze und Aufenthaltsorte der Sirenen. Jn dem gemäßigten Gürtel ſcheinen ſie nur ausnahmsweiſe vorzukommen; doch können wir hierüber nichts Sicheres ſagen, weil ſie der Beobachtung ſehr entzogen ſind. Dagegen wiſſen wir, daß ihr Aufenthalt nicht immer der- ſelbe iſt; ſie wandern oft viele Meilen weit, unter anderem auch bis tief in das Jnnere der Länder, bis in Seen, welche mit großen Flüſſen in Verbindung ſtehen. Man trifft ſie entweder paarweiſe oder in kleinen Geſellſchaften an; doch wird behauptet, daß ſie in ſtrenger Ehe leben und ein Männ- chen ſich immer mit ſeinem Weibchen zuſammenhalte. Sie ſind ſchon weit mehr Seethiere als die Robben; denn nur ſehr ausnahmsweiſe ſchieben ſie zuweilen ihren maſſigen Leib über den Saum des Waſſerſpiegels heraus. Die Gewandtheit anderer Seeſäugethiere geht ihnen ab; ſie ſchwimmen und tauchen zwar vortrefflich, meiden aber doch größere Tiefen, wahrſcheinlich weil ſie zu abwechſelndem Auf- und Niederſteigen zu unbeholfen ſind. Schwimmend erheben ſie oft den Kopf und einen Theil des Oberleibes über den Waſſerſpiegel, wie die märchenhaften Seejungfern es gethan. Auf trockenem Lande ſchleppen ſie ſich mit der allergrößten Anſtrengung kurze Strecken dahin; ihre Floſſenbeine ſind viel zu ſchwach, um die Maſſe des Körpers zu bewältigen, und dieſer beſitzt auch nicht die Biegſam- keit des Seehundleibes, welcher, wie wir ſahen, ein Fortgleiten ermöglicht. Seepflanzen, Tange und Gräſer, welche in Untiefen oder hart am Ufer wachſen, ſowie verſchie- dene Waſſerpflanzen, welche auf ſeichten Stellen der Flüſſe wuchern, bilden die ausſchließliche Nah- rung der Sirenen: ſie und das Borkenthier ſind alſo die einzigen Seeſäugethiere, welche Pflanzen- nahrung verzehren. Jhre Weide mähen ſie mit den dicken Lippen ab und ſchlingen, wie das Nilpferd, ganze Mengen auf ein Mal in den weiten Schlund hinab. Ungeheuer und ganz unjungferlich unbe- ſcheiden iſt ihre Gefräßigkeit. Sie treibt die Seeweiber an, ſaftige Gräſer, welche außerhalb des Waſſers am Uferrande der Flüſſe ſtehen, abzuweiden; ſie wird oft auch zum Verräther der Thiere, weil die Loſung, in Form und Ausſehen dem Rindermiſt ähnelnd, da, wo ſich Sirenen aufhalten, in großer Menge die Oberfläche des Waſſers bedeckt. Wie alle gefräßigen Geſchöpfe ſind auch die Sirenen träge, ſtumpfſinnige und ſchwachgeiſtige Weſen. Man nennt ſie friedlich und harmlos und will damit ſagen, daß ſie Nichts weiter thun, als freſſen und ruhen. Weder furchtſam noch kühn leben ſie mit allen übrigen Thieren im Frieden; ſie bekümmern ſich überhaupt um Nichts weiter, als um ihre Nahrung. Jhr Verſtand iſt außer- ordentlich gering; an dem wirklichen Vorhandenſein deſſelben darf aber nicht gezweifelt werden. Beide Geſchlechter zeigen eine große Aehnlichkeit an einander und ſuchen ſich gegenſeitig zu vertheidigen und zu ſchützen. Die Mütter pflegen ihre Kinder mit viel Liebe und Sorgfalt und tragen ſie ſogar, was kaum möglich ſcheint, wie Menſchenweiber an der Bruſt, während ſie ſäugen. Eine ihrer Finnen muß den Arm vertreten; mit ihr drücken ſie die Kleinen gegen ihren dicken Leib. Bei Gefahr oder im Schmerz entrollen ihren Augen Thränen; gleichwohl würde es gewagt ſein, von dieſen Thränen auf eine beſondere Empfindſamkeit der Seele zu ſchließen. Die Thränen unſerer Sirenen haben mit jenen der Heldinnen des Märchens keine Aehnlichkeit: ſie ſind bedeutungslos. Auch die Stimme der Manaten erinnert durchaus nicht an den Geſang der Meerweiber; ſie beſteht nur in einem ſchwachen, dumpfen Stöhnen. Während des Athmens vernimmt man auch noch ein heftiges Schnauben. Wirklich auffallend iſt, daß dieſe Geſchöpfe die Gefangenſchaft ertragen können; ſie ſollen ſogar einen ziemlich hohen Grad von Zähmung annehmen.

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 814. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/862>, abgerufen am 28.03.2024.