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Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Da kamen die falschen Juden gegangen,
Die führten einst unsern Herrn Christum gefangen.
Die hohen Bäum' erleuchten sehr,
Die harten Stein' zerknirschten sehr.
Wer dies Gebetlein beten kann,
Der bet's des Tages nur einmal.
Die Seele wird vor Gott bestehn,
Wann wir werden zum Himmel eingehn!" Amen.

Als die Runde uns näher kam, wurde die gute Alte gerührt. Ach, sagte sie, es ist heute der sechzehnte Mai, es ist doch Alles einerlei, gerade wie damals, nur haben sie andere Mützen auf und keine Zöpfe mehr. Thut Nichts, wenn's Herz nur gut ist! -- Der Offizier der Runde blieb bei uns stehen und wollte eben fragen, was wir hier so spät zu schaffen hätten, als ich den Fähnrich Graf Grossinger, einen Bekannten, in ihm erkannte. Ich sagte ihm kurz den ganzen Handel, und er sagte, mit einer Art von Erschütterung: Hier haben Sie einen Thaler für die Alte und eine Rose, -- die er in der Hand trug, -- so alte Bauersleute haben Freude an Blumen. Bitten Sie die Alte, Ihnen morgen das Lied in die Feder zu sagen, und bringen Sie mir es. Ich habe lange nach dem Liede getrachtet, aber es nie ganz habhaft werden können. -- Hiemit schieden wir, denn der Posten der nahe gelegenen Hauptwache, bis zu welcher ich ihn über den Platz begleitet hatte, rief: Wer da! Er sagte mir noch, daß er die Wache am Schlosse habe, ich sollte ihn dort besuchen. Ich ging zu der Alten zurück und gab ihr die Rose und den Thaler.

Da kamen die falschen Juden gegangen,
Die führten einst unsern Herrn Christum gefangen.
Die hohen Bäum' erleuchten sehr,
Die harten Stein' zerknirschten sehr.
Wer dies Gebetlein beten kann,
Der bet's des Tages nur einmal.
Die Seele wird vor Gott bestehn,
Wann wir werden zum Himmel eingehn!“ Amen.

Als die Runde uns näher kam, wurde die gute Alte gerührt. Ach, sagte sie, es ist heute der sechzehnte Mai, es ist doch Alles einerlei, gerade wie damals, nur haben sie andere Mützen auf und keine Zöpfe mehr. Thut Nichts, wenn's Herz nur gut ist! — Der Offizier der Runde blieb bei uns stehen und wollte eben fragen, was wir hier so spät zu schaffen hätten, als ich den Fähnrich Graf Grossinger, einen Bekannten, in ihm erkannte. Ich sagte ihm kurz den ganzen Handel, und er sagte, mit einer Art von Erschütterung: Hier haben Sie einen Thaler für die Alte und eine Rose, — die er in der Hand trug, — so alte Bauersleute haben Freude an Blumen. Bitten Sie die Alte, Ihnen morgen das Lied in die Feder zu sagen, und bringen Sie mir es. Ich habe lange nach dem Liede getrachtet, aber es nie ganz habhaft werden können. — Hiemit schieden wir, denn der Posten der nahe gelegenen Hauptwache, bis zu welcher ich ihn über den Platz begleitet hatte, rief: Wer da! Er sagte mir noch, daß er die Wache am Schlosse habe, ich sollte ihn dort besuchen. Ich ging zu der Alten zurück und gab ihr die Rose und den Thaler.

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[0015] Da kamen die falschen Juden gegangen, Die führten einst unsern Herrn Christum gefangen. Die hohen Bäum' erleuchten sehr, Die harten Stein' zerknirschten sehr. Wer dies Gebetlein beten kann, Der bet's des Tages nur einmal. Die Seele wird vor Gott bestehn, Wann wir werden zum Himmel eingehn!“ Amen. Als die Runde uns näher kam, wurde die gute Alte gerührt. Ach, sagte sie, es ist heute der sechzehnte Mai, es ist doch Alles einerlei, gerade wie damals, nur haben sie andere Mützen auf und keine Zöpfe mehr. Thut Nichts, wenn's Herz nur gut ist! — Der Offizier der Runde blieb bei uns stehen und wollte eben fragen, was wir hier so spät zu schaffen hätten, als ich den Fähnrich Graf Grossinger, einen Bekannten, in ihm erkannte. Ich sagte ihm kurz den ganzen Handel, und er sagte, mit einer Art von Erschütterung: Hier haben Sie einen Thaler für die Alte und eine Rose, — die er in der Hand trug, — so alte Bauersleute haben Freude an Blumen. Bitten Sie die Alte, Ihnen morgen das Lied in die Feder zu sagen, und bringen Sie mir es. Ich habe lange nach dem Liede getrachtet, aber es nie ganz habhaft werden können. — Hiemit schieden wir, denn der Posten der nahe gelegenen Hauptwache, bis zu welcher ich ihn über den Platz begleitet hatte, rief: Wer da! Er sagte mir noch, daß er die Wache am Schlosse habe, ich sollte ihn dort besuchen. Ich ging zu der Alten zurück und gab ihr die Rose und den Thaler.

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T13:27:19Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/15>, abgerufen am 28.03.2024.