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Brockes, Barthold Heinrich: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur. Bd. 9. Hamburg u. a., 1748.

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Vermischte Gedichte
Das größte Laster.
Wenn man sich unsern Kreis der Welt
Vor unsers Geistes Auge stellt;
Wird man auf Bergen und in Gründen
An keinem Orte Sünde finden;
Sogar bey wild- und zahmen Thieren,
Jn Lüften, Wasser und Gebüschen,
Bey Ungeziefer, Vögeln, Fischen
Sind keine Sünden zu verspüren.
Luft, Erde, Feuer, Licht und Flut,
Kurz: alle Kreatur ist gut.
Der Mensch ist leider! ganz allein,
Wo Sünden anzutreffen seyn.
Doch halt: mich deucht, daß ich befinde,
Daß, da an ihm sein Leib und Blut,
Wie andre Kreaturen, gut,
Auch seine Hälfte sonder Sünde.
Einfolglich muß sein Geist allein
Der Quell und Sitz der Sünden seyn.
Dieß ist entsetzlich: ich erschrecke,
Daß ich dieß Gift, nach dem Bericht,
Jn der Vernunft, des Himmels Licht,
Jm Geist, der Gottes Hauch, entdecke.
Man höret dieß von Jugend auf;
Man achtet aber gar nicht drauf,
Und läßt es bey dem bloßen Hören;
Da es doch wohl der Mühe werth,
Und es zu unsrer Pflicht gehört,
Sich hierinn besser aufzuklären.
Laßt
Vermiſchte Gedichte
Das groͤßte Laſter.
Wenn man ſich unſern Kreis der Welt
Vor unſers Geiſtes Auge ſtellt;
Wird man auf Bergen und in Gruͤnden
An keinem Orte Suͤnde finden;
Sogar bey wild- und zahmen Thieren,
Jn Luͤften, Waſſer und Gebuͤſchen,
Bey Ungeziefer, Voͤgeln, Fiſchen
Sind keine Suͤnden zu verſpuͤren.
Luft, Erde, Feuer, Licht und Flut,
Kurz: alle Kreatur iſt gut.
Der Menſch iſt leider! ganz allein,
Wo Suͤnden anzutreffen ſeyn.
Doch halt: mich deucht, daß ich befinde,
Daß, da an ihm ſein Leib und Blut,
Wie andre Kreaturen, gut,
Auch ſeine Haͤlfte ſonder Suͤnde.
Einfolglich muß ſein Geiſt allein
Der Quell und Sitz der Suͤnden ſeyn.
Dieß iſt entſetzlich: ich erſchrecke,
Daß ich dieß Gift, nach dem Bericht,
Jn der Vernunft, des Himmels Licht,
Jm Geiſt, der Gottes Hauch, entdecke.
Man hoͤret dieß von Jugend auf;
Man achtet aber gar nicht drauf,
Und laͤßt es bey dem bloßen Hoͤren;
Da es doch wohl der Muͤhe werth,
Und es zu unſrer Pflicht gehoͤrt,
Sich hierinn beſſer aufzuklaͤren.
Laßt
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[350/0370] Vermiſchte Gedichte Das groͤßte Laſter. Wenn man ſich unſern Kreis der Welt Vor unſers Geiſtes Auge ſtellt; Wird man auf Bergen und in Gruͤnden An keinem Orte Suͤnde finden; Sogar bey wild- und zahmen Thieren, Jn Luͤften, Waſſer und Gebuͤſchen, Bey Ungeziefer, Voͤgeln, Fiſchen Sind keine Suͤnden zu verſpuͤren. Luft, Erde, Feuer, Licht und Flut, Kurz: alle Kreatur iſt gut. Der Menſch iſt leider! ganz allein, Wo Suͤnden anzutreffen ſeyn. Doch halt: mich deucht, daß ich befinde, Daß, da an ihm ſein Leib und Blut, Wie andre Kreaturen, gut, Auch ſeine Haͤlfte ſonder Suͤnde. Einfolglich muß ſein Geiſt allein Der Quell und Sitz der Suͤnden ſeyn. Dieß iſt entſetzlich: ich erſchrecke, Daß ich dieß Gift, nach dem Bericht, Jn der Vernunft, des Himmels Licht, Jm Geiſt, der Gottes Hauch, entdecke. Man hoͤret dieß von Jugend auf; Man achtet aber gar nicht drauf, Und laͤßt es bey dem bloßen Hoͤren; Da es doch wohl der Muͤhe werth, Und es zu unſrer Pflicht gehoͤrt, Sich hierinn beſſer aufzuklaͤren. Laßt

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Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur. Bd. 9. Hamburg u. a., 1748, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen09_1748/370>, abgerufen am 23.04.2024.