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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 13. Die Sippe.
unechten, von einer unfreien Mutter geborenen Kindes zu ver-
mitteln57.

Gleichfalls nur aus dem Norden wird uns über das Institut der
Blutsbrüderschaft berichtet, welche zwischen zwei oder mehreren nicht
verwandten Personen männlichen Geschlechts begründet werden kann.
Die Eingehung erfolgt durch einen Formalakt, bei welchem die Ver-
mischung des beiderseits geweckten Blutes und der Eid, dass sie einer
des anderen Tod wie Brüder rächen wollen, die Hauptrolle spielen.
Zwischen den Blutsbrüdern besteht Rachepflicht und Unterstützungs-
pflicht. Häufig ist eine Gütergemeinschaft mit der Blutsbrüderschaft
verbunden58.

Die Stellung, welche der Sippe im Staate zugewiesen war, ent-
spricht dem jugendlichen Charakter der germanischen Staatsgewalt,
die noch nicht so weit entwickelt war, um die Aufgaben der
Sippe an sich zu ziehen. Im Leben der Völker kann ein Übergangs-
zustand eintreten, in welchem der Geschlechtsverband nicht mehr im-
stande ist, seine Funktionen zu erfüllen, während andrerseits der Staat
noch nicht genug erstarkt ist, um die öffentlich-rechtlichen Funktionen
des Geschlechtes auf seine Schultern zu nehmen. In solchen Übergangs-
verhältnissen hilft man sich wohl dadurch aus, dass in bestehende
Geschlechter nicht blutsverwandte Personen eingeordnet oder dass
Personen, die keiner örtlichen Sippe angehören, nach Art eines
Geschlechtsverbandes gewissermassen als künstliche Sippen gruppiert
werden59. Bei den Germanen ist eine derartige Entwicklung im all-
gemeinen nicht eingetreten. Die natürlichen Geschlechtsverbände
reichten aus, bis teils das Gemeinwesen sie aus dem Gebiete des
öffentlichen Rechtes zu verdrängen vermochte, teils persönliche Schutz-
verhältnisse entstanden waren, welche einen Ersatz für den Schutz
der Sippe gewährten. Nur in einzelnen Gegenden, wo letztere nicht
zu voller Ausbildung gelangten, finden sich später Geschlechtsverbände,
die nicht mehr nur die Blutsverwandtschaft zur Grundlage haben, wie
dies bei den Slachten und Klüften der Dietmarschen der Fall war60.

57 K. Maurer, Die unächte Geburt nach altnordischem Rechte S 74 ff.,
Sep.-Abdr. aus den Sitzungsberichten der Münchener Akademie 1883 Heft 1.
58 J. Grimm, RA S 118 f. Pappenheim, Die altdänischen Schutzgilden,
1885, S 18. Kohler in der Z f. vgl. RW V 434 ff.
59 Vgl. Waitz, VG I 85 f.
60 Dahlmann in seiner Ausgabe des Neocorus, Chronik des Landes Dith-
marschen, 1827 2 Bde, I 595. 596. Dahlmann, Gesch. von Dännemark III 272.
Nitzsch, Die Gesch. d. Ditmarsischen Geschlechterverfassung, J für die Landes-
kunde der Herzogthümer Schleswig-Holstein u. Lauenburg III 83. Eichhorn I 84.

§ 13. Die Sippe.
unechten, von einer unfreien Mutter geborenen Kindes zu ver-
mitteln57.

Gleichfalls nur aus dem Norden wird uns über das Institut der
Blutsbrüderschaft berichtet, welche zwischen zwei oder mehreren nicht
verwandten Personen männlichen Geschlechts begründet werden kann.
Die Eingehung erfolgt durch einen Formalakt, bei welchem die Ver-
mischung des beiderseits geweckten Blutes und der Eid, daſs sie einer
des anderen Tod wie Brüder rächen wollen, die Hauptrolle spielen.
Zwischen den Blutsbrüdern besteht Rachepflicht und Unterstützungs-
pflicht. Häufig ist eine Gütergemeinschaft mit der Blutsbrüderschaft
verbunden58.

Die Stellung, welche der Sippe im Staate zugewiesen war, ent-
spricht dem jugendlichen Charakter der germanischen Staatsgewalt,
die noch nicht so weit entwickelt war, um die Aufgaben der
Sippe an sich zu ziehen. Im Leben der Völker kann ein Übergangs-
zustand eintreten, in welchem der Geschlechtsverband nicht mehr im-
stande ist, seine Funktionen zu erfüllen, während andrerseits der Staat
noch nicht genug erstarkt ist, um die öffentlich-rechtlichen Funktionen
des Geschlechtes auf seine Schultern zu nehmen. In solchen Übergangs-
verhältnissen hilft man sich wohl dadurch aus, daſs in bestehende
Geschlechter nicht blutsverwandte Personen eingeordnet oder daſs
Personen, die keiner örtlichen Sippe angehören, nach Art eines
Geschlechtsverbandes gewissermaſsen als künstliche Sippen gruppiert
werden59. Bei den Germanen ist eine derartige Entwicklung im all-
gemeinen nicht eingetreten. Die natürlichen Geschlechtsverbände
reichten aus, bis teils das Gemeinwesen sie aus dem Gebiete des
öffentlichen Rechtes zu verdrängen vermochte, teils persönliche Schutz-
verhältnisse entstanden waren, welche einen Ersatz für den Schutz
der Sippe gewährten. Nur in einzelnen Gegenden, wo letztere nicht
zu voller Ausbildung gelangten, finden sich später Geschlechtsverbände,
die nicht mehr nur die Blutsverwandtschaft zur Grundlage haben, wie
dies bei den Slachten und Klüften der Dietmarschen der Fall war60.

57 K. Maurer, Die unächte Geburt nach altnordischem Rechte S 74 ff.,
Sep.-Abdr. aus den Sitzungsberichten der Münchener Akademie 1883 Heft 1.
58 J. Grimm, RA S 118 f. Pappenheim, Die altdänischen Schutzgilden,
1885, S 18. Kohler in der Z f. vgl. RW V 434 ff.
59 Vgl. Waitz, VG I 85 f.
60 Dahlmann in seiner Ausgabe des Neocorus, Chronik des Landes Dith-
marschen, 1827 2 Bde, I 595. 596. Dahlmann, Gesch. von Dännemark III 272.
Nitzsch, Die Gesch. d. Ditmarsischen Geschlechterverfassung, J für die Landes-
kunde der Herzogthümer Schleswig-Holstein u. Lauenburg III 83. Eichhorn I 84.
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[94/0112] § 13. Die Sippe. unechten, von einer unfreien Mutter geborenen Kindes zu ver- mitteln 57. Gleichfalls nur aus dem Norden wird uns über das Institut der Blutsbrüderschaft berichtet, welche zwischen zwei oder mehreren nicht verwandten Personen männlichen Geschlechts begründet werden kann. Die Eingehung erfolgt durch einen Formalakt, bei welchem die Ver- mischung des beiderseits geweckten Blutes und der Eid, daſs sie einer des anderen Tod wie Brüder rächen wollen, die Hauptrolle spielen. Zwischen den Blutsbrüdern besteht Rachepflicht und Unterstützungs- pflicht. Häufig ist eine Gütergemeinschaft mit der Blutsbrüderschaft verbunden 58. Die Stellung, welche der Sippe im Staate zugewiesen war, ent- spricht dem jugendlichen Charakter der germanischen Staatsgewalt, die noch nicht so weit entwickelt war, um die Aufgaben der Sippe an sich zu ziehen. Im Leben der Völker kann ein Übergangs- zustand eintreten, in welchem der Geschlechtsverband nicht mehr im- stande ist, seine Funktionen zu erfüllen, während andrerseits der Staat noch nicht genug erstarkt ist, um die öffentlich-rechtlichen Funktionen des Geschlechtes auf seine Schultern zu nehmen. In solchen Übergangs- verhältnissen hilft man sich wohl dadurch aus, daſs in bestehende Geschlechter nicht blutsverwandte Personen eingeordnet oder daſs Personen, die keiner örtlichen Sippe angehören, nach Art eines Geschlechtsverbandes gewissermaſsen als künstliche Sippen gruppiert werden 59. Bei den Germanen ist eine derartige Entwicklung im all- gemeinen nicht eingetreten. Die natürlichen Geschlechtsverbände reichten aus, bis teils das Gemeinwesen sie aus dem Gebiete des öffentlichen Rechtes zu verdrängen vermochte, teils persönliche Schutz- verhältnisse entstanden waren, welche einen Ersatz für den Schutz der Sippe gewährten. Nur in einzelnen Gegenden, wo letztere nicht zu voller Ausbildung gelangten, finden sich später Geschlechtsverbände, die nicht mehr nur die Blutsverwandtschaft zur Grundlage haben, wie dies bei den Slachten und Klüften der Dietmarschen der Fall war 60. 57 K. Maurer, Die unächte Geburt nach altnordischem Rechte S 74 ff., Sep.-Abdr. aus den Sitzungsberichten der Münchener Akademie 1883 Heft 1. 58 J. Grimm, RA S 118 f. Pappenheim, Die altdänischen Schutzgilden, 1885, S 18. Kohler in der Z f. vgl. RW V 434 ff. 59 Vgl. Waitz, VG I 85 f. 60 Dahlmann in seiner Ausgabe des Neocorus, Chronik des Landes Dith- marschen, 1827 2 Bde, I 595. 596. Dahlmann, Gesch. von Dännemark III 272. Nitzsch, Die Gesch. d. Ditmarsischen Geschlechterverfassung, J für die Landes- kunde der Herzogthümer Schleswig-Holstein u. Lauenburg III 83. Eichhorn I 84.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/112>, abgerufen am 29.03.2024.