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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.
Für Gesetz, Norm begegnet uns im Althochdeutschen wizod, wizzut4,
gotisch vitoth, altsächsisch witod, witut5. Von diesen Ausdrücken hat
die neuhochdeutsche Sprache nur das Wort Ehe in der sehr ver-
engten Bedeutung von matrimonium und in einigen veraltenden
Zusammensetzungen bewahrt. Das Wort Recht, rectum, althd. und
alts. reht, fries. riucht, altnord. rettr (masc.), im Gotischen nicht
vertreten6, scheint verhältnismässig jüngeren Ursprungs zu sein und
bezeichnet zunächst die durch die Rechtsordnung den einzelnen zu-
gewiesene Stellung, den Rechtsanspruch und die Rechtspflicht, im
weiteren Sinne die Rechtsordnung überhaupt.

Das Recht wird in ältester Zeit als ungeschriebenes Gewohnheits-
recht durch unmittelbare Anwendung der Rechtssätze im Rechtsleben
entwickelt und fortgebildet. Es braucht nicht durch allgemeines
Rechtsgebot gesetzt, sondern nur im Einzelfalle aus dem gleichartigen
Rechtsbewusstsein der Volksgenossen gefunden zu werden. Es ist
Volksrecht, seine Ausbildung und Anwendung ist nicht etwa aus-
gewählten berufsmässigen Organen überlassen, sondern geschieht durch
die Gerichtsversammlungen, in welchen die freien und wehrhaften
Männer des Volkes sich an der öffentlichen Rechtsprechung beteiligen.
Dadurch wird nicht ausgeschlossen, dass einzelne Gerichtsgenossen
wegen hervorragender Rechtskenntnis besonderes Ansehen geniessen,
als gesuchte Rechtsprecher (eosagari) um Rechtsgutachten befragt
werden und vor Gericht bestimmenden Einfluss auf die Urteilfindung
gewinnen. Da die Rechtskenntnis Gemeingut des Volkes war, wie
Glaube und Sprache, so bestand in der germanischen Zeit weder das
Bedürfnis schriftlicher Fixierung des geltenden Rechts, noch das Be-
dürfnis besonderer Einrichtungen, welche im Wege mündlicher Rechts-
belehrung die traditionelle Überlieferung des Rechtes von Generation
auf Generation verbürgt hätten. War das Recht im einzelnen Falle
zweifelhaft, so half man sich wohl schon in ältester Zeit durch Auf-
nahme eines Weistums, das heisst durch einen Wahrspruch, welchen
zu diesem Zwecke ausgewählte ältere und erfahrene Männer auf amt-
liche Anfrage hin über das geltende Recht abgaben. Dagegen ist es

4 In der Kapitularienübersetzung, Boretius, Cap. I 381: eam legem habeat
= then vuizzut ... haue; qui eadem lege vivant = thie theru selueru vuizzidi
leuen; legitimam traditionem = vuizzethahtia sala. Vgl. noch Graff I 1112.
5 Heyne, Altniederd. Denkmäler, Glossar unter uuitut, uuitutdragere (legis-
lator). Über friesisch witat, Hostie v. Richthofen, WB S 1154. (Niederländisch
wet bedeutet Recht, Gesetz und ist nur mittelbar verwandt.)
6 v. Richthofen, Fries. WB S 994. v. Amira, Obligationenrecht S 55 ff.
Grimm, WB VIII 364.

§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.
Für Gesetz, Norm begegnet uns im Althochdeutschen wizôd, wizzut4,
gotisch vitoth, altsächsisch witod, witut5. Von diesen Ausdrücken hat
die neuhochdeutsche Sprache nur das Wort Ehe in der sehr ver-
engten Bedeutung von matrimonium und in einigen veraltenden
Zusammensetzungen bewahrt. Das Wort Recht, rectum, althd. und
alts. rëht, fries. riucht, altnord. réttr (masc.), im Gotischen nicht
vertreten6, scheint verhältnismäſsig jüngeren Ursprungs zu sein und
bezeichnet zunächst die durch die Rechtsordnung den einzelnen zu-
gewiesene Stellung, den Rechtsanspruch und die Rechtspflicht, im
weiteren Sinne die Rechtsordnung überhaupt.

Das Recht wird in ältester Zeit als ungeschriebenes Gewohnheits-
recht durch unmittelbare Anwendung der Rechtssätze im Rechtsleben
entwickelt und fortgebildet. Es braucht nicht durch allgemeines
Rechtsgebot gesetzt, sondern nur im Einzelfalle aus dem gleichartigen
Rechtsbewuſstsein der Volksgenossen gefunden zu werden. Es ist
Volksrecht, seine Ausbildung und Anwendung ist nicht etwa aus-
gewählten berufsmäſsigen Organen überlassen, sondern geschieht durch
die Gerichtsversammlungen, in welchen die freien und wehrhaften
Männer des Volkes sich an der öffentlichen Rechtsprechung beteiligen.
Dadurch wird nicht ausgeschlossen, daſs einzelne Gerichtsgenossen
wegen hervorragender Rechtskenntnis besonderes Ansehen genieſsen,
als gesuchte Rechtsprecher (êosagari) um Rechtsgutachten befragt
werden und vor Gericht bestimmenden Einfluſs auf die Urteilfindung
gewinnen. Da die Rechtskenntnis Gemeingut des Volkes war, wie
Glaube und Sprache, so bestand in der germanischen Zeit weder das
Bedürfnis schriftlicher Fixierung des geltenden Rechts, noch das Be-
dürfnis besonderer Einrichtungen, welche im Wege mündlicher Rechts-
belehrung die traditionelle Überlieferung des Rechtes von Generation
auf Generation verbürgt hätten. War das Recht im einzelnen Falle
zweifelhaft, so half man sich wohl schon in ältester Zeit durch Auf-
nahme eines Weistums, das heiſst durch einen Wahrspruch, welchen
zu diesem Zwecke ausgewählte ältere und erfahrene Männer auf amt-
liche Anfrage hin über das geltende Recht abgaben. Dagegen ist es

4 In der Kapitularienübersetzung, Boretius, Cap. I 381: eam legem habeat
= then vuizzut … haue; qui eadem lege vivant = thie theru selueru vuizzidi
leuen; legitimam traditionem = vuizzethahtia sala. Vgl. noch Graff I 1112.
5 Heyne, Altniederd. Denkmäler, Glossar unter uuitut, uuitutdragere (legis-
lator). Über friesisch witat, Hostie v. Richthofen, WB S 1154. (Niederländisch
wet bedeutet Recht, Gesetz und ist nur mittelbar verwandt.)
6 v. Richthofen, Fries. WB S 994. v. Amira, Obligationenrecht S 55 ff.
Grimm, WB VIII 364.
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[110/0128] § 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen. Für Gesetz, Norm begegnet uns im Althochdeutschen wizôd, wizzut 4, gotisch vitoth, altsächsisch witod, witut 5. Von diesen Ausdrücken hat die neuhochdeutsche Sprache nur das Wort Ehe in der sehr ver- engten Bedeutung von matrimonium und in einigen veraltenden Zusammensetzungen bewahrt. Das Wort Recht, rectum, althd. und alts. rëht, fries. riucht, altnord. réttr (masc.), im Gotischen nicht vertreten 6, scheint verhältnismäſsig jüngeren Ursprungs zu sein und bezeichnet zunächst die durch die Rechtsordnung den einzelnen zu- gewiesene Stellung, den Rechtsanspruch und die Rechtspflicht, im weiteren Sinne die Rechtsordnung überhaupt. Das Recht wird in ältester Zeit als ungeschriebenes Gewohnheits- recht durch unmittelbare Anwendung der Rechtssätze im Rechtsleben entwickelt und fortgebildet. Es braucht nicht durch allgemeines Rechtsgebot gesetzt, sondern nur im Einzelfalle aus dem gleichartigen Rechtsbewuſstsein der Volksgenossen gefunden zu werden. Es ist Volksrecht, seine Ausbildung und Anwendung ist nicht etwa aus- gewählten berufsmäſsigen Organen überlassen, sondern geschieht durch die Gerichtsversammlungen, in welchen die freien und wehrhaften Männer des Volkes sich an der öffentlichen Rechtsprechung beteiligen. Dadurch wird nicht ausgeschlossen, daſs einzelne Gerichtsgenossen wegen hervorragender Rechtskenntnis besonderes Ansehen genieſsen, als gesuchte Rechtsprecher (êosagari) um Rechtsgutachten befragt werden und vor Gericht bestimmenden Einfluſs auf die Urteilfindung gewinnen. Da die Rechtskenntnis Gemeingut des Volkes war, wie Glaube und Sprache, so bestand in der germanischen Zeit weder das Bedürfnis schriftlicher Fixierung des geltenden Rechts, noch das Be- dürfnis besonderer Einrichtungen, welche im Wege mündlicher Rechts- belehrung die traditionelle Überlieferung des Rechtes von Generation auf Generation verbürgt hätten. War das Recht im einzelnen Falle zweifelhaft, so half man sich wohl schon in ältester Zeit durch Auf- nahme eines Weistums, das heiſst durch einen Wahrspruch, welchen zu diesem Zwecke ausgewählte ältere und erfahrene Männer auf amt- liche Anfrage hin über das geltende Recht abgaben. Dagegen ist es 4 In der Kapitularienübersetzung, Boretius, Cap. I 381: eam legem habeat = then vuizzut … haue; qui eadem lege vivant = thie theru selueru vuizzidi leuen; legitimam traditionem = vuizzethahtia sala. Vgl. noch Graff I 1112. 5 Heyne, Altniederd. Denkmäler, Glossar unter uuitut, uuitutdragere (legis- lator). Über friesisch witat, Hostie v. Richthofen, WB S 1154. (Niederländisch wet bedeutet Recht, Gesetz und ist nur mittelbar verwandt.) 6 v. Richthofen, Fries. WB S 994. v. Amira, Obligationenrecht S 55 ff. Grimm, WB VIII 364.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/128>, abgerufen am 19.04.2024.