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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 18. Die Landesgemeinde.
sachsen medel 3 und gemot 4, bei den Sachsen und Friesen warf oder
werf 5, ein Ausdruck, der vermutlich auch den Langobarden und den
Baiern geläufig war 6. Den engeren Begriff Volksversammlung liefern
Zusammensetzungen wie thiodothing 7, thiotmalli 8, liodthing oder Lot-
ting, liodwarf 9. Die Landesgemeinde tritt zu bestimmten Zeiten, ge-
wöhnlich bei Neumond oder Vollmond zusammen. Man tagt im
Freien, auf einer den Göttern geweihten Stätte, denn die Landes-
gemeinde ist zugleich Opferversammlung. Die Volksgenossen sind ver-
pflichtet zu erscheinen 10 und zwar bewaffnet zu erscheinen, denn die
Landesgemeinde ist zugleich Heeresversammlung und dient zur Heer-
schau. Sie entscheidet über Krieg und Frieden. In ihr werden die
Jünglinge wehrhaft gemacht und in das Heer aufgenommen. In ihr
finden wohl auch die Freilassungen statt, durch welche der Frei-
zulassende zum vollberechtigten Volksgenossen erhoben werden sollte.
Die Landesgemeinde ist Wahlversammlung, sie vollzieht die Wahl und
Anerkennung des Königs, sie kürt die Gaufürsten und bestellt den
Herzog, wenn ein Krieg unternommen werden soll. Die Landes-
gemeinde fungiert als Gerichtsversammlung. Vermutlich konnte sie
jede Rechtssache mit Umgehung der Hundertschaft an sich ziehen.

mallus nicht wie Grimm, RA S 746 auf mahal, sondern auf got. mathl, ahd.
madal, ags. medel, concio, forum zurück. Das niederfränkische heimaell ist Hege-
mal, gehegtes Ding: Haltaus I 776; siehe noch Grimm, Weistümer VI 692, 4.
3 Hlothar und Eadric 8.
4 Schmid, Gesetze der Angels. S 595.
5 Von werben, ahd. hwerban, hwerfan, alts. hwerbhan, altfries. hwerva. Huart
im Heliand 4467. 5547. 2306. Westfälisches Weistum bei Grimm, Weist. III
109: Urteil eingebracht nach Erkenntnis und Befehl des gemeinen Werfs. Warr
im Ssp Landr. I 63 § 4. 5, II 12 § 15. Über warf im Friesischen s. v. Richthofen,
Fries. WB S 1126; bei den Schweden Waitz, VG I 340 Anm 5.
6 Denn aus der Wurzel warf ist das langobardische Wort cawarfida, Liutpr.
77. 133 zu erklären, welches Gerichtsgebrauch bedeutet. Cawarfida ist sprachlich
identisch mit bairisch gewerft, gewerf, Schmeller, Bayer. WB II 994: Verhand-
lung, Unterhandlung, Vertrag. Gewerf steht zu werf, warf wie zu Ding Geding,
welches gleichfalls Verhandlung und Vertrag bedeutet.
7 Heliand 4174.
8 Als Ortsname z. B. in Detmold, Kirchdietmold bei Kassel (früher Dyetmelle)
erhalten. Vgl. Malevelt, Male bei Brügge, Cout. du Franc de Bruges III 154,
I 383 u. öfter.
9 v. Richthofen, Fries. WB S 904. Kühns, Gerichtsverfassung der Mark
Brandenburg II 95.
10 S. die treffende Bemerkung Schröders, RG I 16 Anm 4, der mit Recht
von der allgemeinen Heerpflicht auf die allgemeine Dingpflicht schliesst. Auf den
Ausdruck felicissimus exercitus noster in Roth. 386 möchte ich weniger Gewicht
legen, weil er aus römischer Vorlage stammt. S. unten § 53.
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 9

§ 18. Die Landesgemeinde.
sachsen međel 3 und gemôt 4, bei den Sachsen und Friesen warf oder
werf 5, ein Ausdruck, der vermutlich auch den Langobarden und den
Baiern geläufig war 6. Den engeren Begriff Volksversammlung liefern
Zusammensetzungen wie thiodothing 7, thiotmalli 8, liodthing oder Lot-
ting, liodwarf 9. Die Landesgemeinde tritt zu bestimmten Zeiten, ge-
wöhnlich bei Neumond oder Vollmond zusammen. Man tagt im
Freien, auf einer den Göttern geweihten Stätte, denn die Landes-
gemeinde ist zugleich Opferversammlung. Die Volksgenossen sind ver-
pflichtet zu erscheinen 10 und zwar bewaffnet zu erscheinen, denn die
Landesgemeinde ist zugleich Heeresversammlung und dient zur Heer-
schau. Sie entscheidet über Krieg und Frieden. In ihr werden die
Jünglinge wehrhaft gemacht und in das Heer aufgenommen. In ihr
finden wohl auch die Freilassungen statt, durch welche der Frei-
zulassende zum vollberechtigten Volksgenossen erhoben werden sollte.
Die Landesgemeinde ist Wahlversammlung, sie vollzieht die Wahl und
Anerkennung des Königs, sie kürt die Gaufürsten und bestellt den
Herzog, wenn ein Krieg unternommen werden soll. Die Landes-
gemeinde fungiert als Gerichtsversammlung. Vermutlich konnte sie
jede Rechtssache mit Umgehung der Hundertschaft an sich ziehen.

mallus nicht wie Grimm, RA S 746 auf mahal, sondern auf got. maþl, ahd.
madal, ags. međel, concio, forum zurück. Das niederfränkische heimaell ist Hege-
mal, gehegtes Ding: Haltaus I 776; siehe noch Grimm, Weistümer VI 692, 4.
3 Hlothar und Eadric 8.
4 Schmid, Gesetze der Angels. S 595.
5 Von werben, ahd. hwërban, hwërfan, alts. hwërbhan, altfries. hwerva. Huart
im Heliand 4467. 5547. 2306. Westfälisches Weistum bei Grimm, Weist. III
109: Urteil eingebracht nach Erkenntnis und Befehl des gemeinen Werfs. Warr
im Ssp Landr. I 63 § 4. 5, II 12 § 15. Über warf im Friesischen s. v. Richthofen,
Fries. WB S 1126; bei den Schweden Waitz, VG I 340 Anm 5.
6 Denn aus der Wurzel warf ist das langobardische Wort cawarfĭda, Liutpr.
77. 133 zu erklären, welches Gerichtsgebrauch bedeutet. Cawarfida ist sprachlich
identisch mit bairisch gewerft, gewerf, Schmeller, Bayer. WB II 994: Verhand-
lung, Unterhandlung, Vertrag. Gewerf steht zu werf, warf wie zu Ding Geding,
welches gleichfalls Verhandlung und Vertrag bedeutet.
7 Heliand 4174.
8 Als Ortsname z. B. in Detmold, Kirchdietmold bei Kassel (früher Dyetmelle)
erhalten. Vgl. Malevelt, Male bei Brügge, Cout. du Franc de Bruges III 154,
I 383 u. öfter.
9 v. Richthofen, Fries. WB S 904. Kühns, Gerichtsverfassung der Mark
Brandenburg II 95.
10 S. die treffende Bemerkung Schröders, RG I 16 Anm 4, der mit Recht
von der allgemeinen Heerpflicht auf die allgemeine Dingpflicht schlieſst. Auf den
Ausdruck felicissimus exercitus noster in Roth. 386 möchte ich weniger Gewicht
legen, weil er aus römischer Vorlage stammt. S. unten § 53.
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 9
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[129/0147] § 18. Die Landesgemeinde. sachsen međel 3 und gemôt 4, bei den Sachsen und Friesen warf oder werf 5, ein Ausdruck, der vermutlich auch den Langobarden und den Baiern geläufig war 6. Den engeren Begriff Volksversammlung liefern Zusammensetzungen wie thiodothing 7, thiotmalli 8, liodthing oder Lot- ting, liodwarf 9. Die Landesgemeinde tritt zu bestimmten Zeiten, ge- wöhnlich bei Neumond oder Vollmond zusammen. Man tagt im Freien, auf einer den Göttern geweihten Stätte, denn die Landes- gemeinde ist zugleich Opferversammlung. Die Volksgenossen sind ver- pflichtet zu erscheinen 10 und zwar bewaffnet zu erscheinen, denn die Landesgemeinde ist zugleich Heeresversammlung und dient zur Heer- schau. Sie entscheidet über Krieg und Frieden. In ihr werden die Jünglinge wehrhaft gemacht und in das Heer aufgenommen. In ihr finden wohl auch die Freilassungen statt, durch welche der Frei- zulassende zum vollberechtigten Volksgenossen erhoben werden sollte. Die Landesgemeinde ist Wahlversammlung, sie vollzieht die Wahl und Anerkennung des Königs, sie kürt die Gaufürsten und bestellt den Herzog, wenn ein Krieg unternommen werden soll. Die Landes- gemeinde fungiert als Gerichtsversammlung. Vermutlich konnte sie jede Rechtssache mit Umgehung der Hundertschaft an sich ziehen. 2 3 Hlothar und Eadric 8. 4 Schmid, Gesetze der Angels. S 595. 5 Von werben, ahd. hwërban, hwërfan, alts. hwërbhan, altfries. hwerva. Huart im Heliand 4467. 5547. 2306. Westfälisches Weistum bei Grimm, Weist. III 109: Urteil eingebracht nach Erkenntnis und Befehl des gemeinen Werfs. Warr im Ssp Landr. I 63 § 4. 5, II 12 § 15. Über warf im Friesischen s. v. Richthofen, Fries. WB S 1126; bei den Schweden Waitz, VG I 340 Anm 5. 6 Denn aus der Wurzel warf ist das langobardische Wort cawarfĭda, Liutpr. 77. 133 zu erklären, welches Gerichtsgebrauch bedeutet. Cawarfida ist sprachlich identisch mit bairisch gewerft, gewerf, Schmeller, Bayer. WB II 994: Verhand- lung, Unterhandlung, Vertrag. Gewerf steht zu werf, warf wie zu Ding Geding, welches gleichfalls Verhandlung und Vertrag bedeutet. 7 Heliand 4174. 8 Als Ortsname z. B. in Detmold, Kirchdietmold bei Kassel (früher Dyetmelle) erhalten. Vgl. Malevelt, Male bei Brügge, Cout. du Franc de Bruges III 154, I 383 u. öfter. 9 v. Richthofen, Fries. WB S 904. Kühns, Gerichtsverfassung der Mark Brandenburg II 95. 10 S. die treffende Bemerkung Schröders, RG I 16 Anm 4, der mit Recht von der allgemeinen Heerpflicht auf die allgemeine Dingpflicht schlieſst. Auf den Ausdruck felicissimus exercitus noster in Roth. 386 möchte ich weniger Gewicht legen, weil er aus römischer Vorlage stammt. S. unten § 53. 2 mallus nicht wie Grimm, RA S 746 auf mahal, sondern auf got. maþl, ahd. madal, ags. međel, concio, forum zurück. Das niederfränkische heimaell ist Hege- mal, gehegtes Ding: Haltaus I 776; siehe noch Grimm, Weistümer VI 692, 4. Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 9

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/147>, abgerufen am 29.03.2024.