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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.
sich in Mittelfriesland, nämlich auf zwei Drittel des Freienwergelds.
Bei den mittleren Friesen fiel ein Viertel, bei den Ostfriesen ein
Drittel des Wergelds an die Verwandten des Liten, der Rest an den
Herrn 2. Ein analoger Teilungsmodus hat vermutlich auch bei den
übrigen niederdeutschen Stämmen bestanden 3.

Die rechtliche Stellung der Liten scheint sich etwas gehoben zu
haben. Sie sind prozessfähig, geniessen das Recht des Eides und
müssen nicht wie die langobardischen Aldien durch ihren Herrn ver-
treten werden. Da die Person des Liten nicht im Eigentum des Herrn
steht, kann er den Liten nicht veräussern, wohl aber die Hufe auf
welcher der Lite sitzt und die Dienste die er zu leisten hat. Der Lite
zahlt eine persönliche Abgabe an den Herrn, welche bei den Franken
litimonium heisst. Dazu kommen dann noch die Zinse und Dienste,
die von der Hufe an den Herrenhof zu leisten sind 4. Wie die servi
ministeriales, so nehmen auch die Liten auf Geheiss ihres Herrn als
dessen Begleiter an Heerfahrten teil 5. Der Stand der Liten ergänzte
sich durch Geburt, durch freiwillige Ergebung in den Litendienst 6
und durch Freilassung von Knechten.

Die geschichtlich bedeutendste Rolle haben die Liten in Sachsen
gespielt, wo ihre Anzahl eine ziemlich erhebliche gewesen sein muss.
Sie sind unter den Geiseln vertreten, welche Karl der Grosse aus dem
Volke nahm 7. Neben den Adeligen und Freien wurden sie zur
Ausstattung der christlichen Kirchen herangezogen 8. Die Heerpflicht
erstreckte sich in Sachsen auch auf die Liten 9. Ja, nach einer Nach-
richt, deren Glaubwürdigkeit allerdings nicht ohne Grund bestritten
wird, wären sie vor der Unterwerfung durch Abgeordnete auf allge-
meinen sächsischen Stammesversammlungen vertreten gewesen 10. Von

2 Z2 f. RG III 18 ff.
3 Eine Halbteilung des Wergeldes zwischen Fiskus und Sippe konzedierte den
königlichen Aldien König Liutprand in der Notitia de actoribus c. 4.
4 Die Traditiones Fuldenses unterscheiden lidi pleni und lidi dimidii, jenach-
dem sie volle oder halbe Litendienste zu leisten haben.
5 Lex Salica 26, 1, Cod. 5--9 und Emendata: si quis litum alienum qui apud
dominum in hoste fuerit, ... ingenuum dimiserit. Winogradoff, Forschungen
XVIII 189 will emendieren: qui a domino suo in hoste dimissus fuerit ... in-
genuum dimiserit.
6 Lex Fris. 11, 1 oben S 103 Anm 3.
7 Annal. Laureshamenses zum J. 780 MG SS I 31.
8 Cap. de part. Sax. c. 15, I 69.
9 S. die Stellen bei Waitz, VG IV 537 und Roth, BW S 406 f.
10 Hucbald, Vita S. Lebuini, MG SS II 361. Siehe W. Sickel, Der deutsche
Freistaat S 196 Anm 5. Die Vita ist erst im 10. Jahrh. verfasst worden.

§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.
sich in Mittelfriesland, nämlich auf zwei Drittel des Freienwergelds.
Bei den mittleren Friesen fiel ein Viertel, bei den Ostfriesen ein
Drittel des Wergelds an die Verwandten des Liten, der Rest an den
Herrn 2. Ein analoger Teilungsmodus hat vermutlich auch bei den
übrigen niederdeutschen Stämmen bestanden 3.

Die rechtliche Stellung der Liten scheint sich etwas gehoben zu
haben. Sie sind prozeſsfähig, genieſsen das Recht des Eides und
müssen nicht wie die langobardischen Aldien durch ihren Herrn ver-
treten werden. Da die Person des Liten nicht im Eigentum des Herrn
steht, kann er den Liten nicht veräuſsern, wohl aber die Hufe auf
welcher der Lite sitzt und die Dienste die er zu leisten hat. Der Lite
zahlt eine persönliche Abgabe an den Herrn, welche bei den Franken
litimonium heiſst. Dazu kommen dann noch die Zinse und Dienste,
die von der Hufe an den Herrenhof zu leisten sind 4. Wie die servi
ministeriales, so nehmen auch die Liten auf Geheiſs ihres Herrn als
dessen Begleiter an Heerfahrten teil 5. Der Stand der Liten ergänzte
sich durch Geburt, durch freiwillige Ergebung in den Litendienst 6
und durch Freilassung von Knechten.

Die geschichtlich bedeutendste Rolle haben die Liten in Sachsen
gespielt, wo ihre Anzahl eine ziemlich erhebliche gewesen sein muſs.
Sie sind unter den Geiseln vertreten, welche Karl der Groſse aus dem
Volke nahm 7. Neben den Adeligen und Freien wurden sie zur
Ausstattung der christlichen Kirchen herangezogen 8. Die Heerpflicht
erstreckte sich in Sachsen auch auf die Liten 9. Ja, nach einer Nach-
richt, deren Glaubwürdigkeit allerdings nicht ohne Grund bestritten
wird, wären sie vor der Unterwerfung durch Abgeordnete auf allge-
meinen sächsischen Stammesversammlungen vertreten gewesen 10. Von

2 Z2 f. RG III 18 ff.
3 Eine Halbteilung des Wergeldes zwischen Fiskus und Sippe konzedierte den
königlichen Aldien König Liutprand in der Notitia de actoribus c. 4.
4 Die Traditiones Fuldenses unterscheiden lidi pleni und lidi dimidii, jenach-
dem sie volle oder halbe Litendienste zu leisten haben.
5 Lex Salica 26, 1, Cod. 5—9 und Emendata: si quis litum alienum qui apud
dominum in hoste fuerit, … ingenuum dimiserit. Winogradoff, Forschungen
XVIII 189 will emendieren: qui a domino suo in hoste dimissus fuerit … in-
genuum dimiserit.
6 Lex Fris. 11, 1 oben S 103 Anm 3.
7 Annal. Laureshamenses zum J. 780 MG SS I 31.
8 Cap. de part. Sax. c. 15, I 69.
9 S. die Stellen bei Waitz, VG IV 537 und Roth, BW S 406 f.
10 Hucbald, Vita S. Lebuini, MG SS II 361. Siehe W. Sickel, Der deutsche
Freistaat S 196 Anm 5. Die Vita ist erst im 10. Jahrh. verfaſst worden.
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[239/0257] § 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen. sich in Mittelfriesland, nämlich auf zwei Drittel des Freienwergelds. Bei den mittleren Friesen fiel ein Viertel, bei den Ostfriesen ein Drittel des Wergelds an die Verwandten des Liten, der Rest an den Herrn 2. Ein analoger Teilungsmodus hat vermutlich auch bei den übrigen niederdeutschen Stämmen bestanden 3. Die rechtliche Stellung der Liten scheint sich etwas gehoben zu haben. Sie sind prozeſsfähig, genieſsen das Recht des Eides und müssen nicht wie die langobardischen Aldien durch ihren Herrn ver- treten werden. Da die Person des Liten nicht im Eigentum des Herrn steht, kann er den Liten nicht veräuſsern, wohl aber die Hufe auf welcher der Lite sitzt und die Dienste die er zu leisten hat. Der Lite zahlt eine persönliche Abgabe an den Herrn, welche bei den Franken litimonium heiſst. Dazu kommen dann noch die Zinse und Dienste, die von der Hufe an den Herrenhof zu leisten sind 4. Wie die servi ministeriales, so nehmen auch die Liten auf Geheiſs ihres Herrn als dessen Begleiter an Heerfahrten teil 5. Der Stand der Liten ergänzte sich durch Geburt, durch freiwillige Ergebung in den Litendienst 6 und durch Freilassung von Knechten. Die geschichtlich bedeutendste Rolle haben die Liten in Sachsen gespielt, wo ihre Anzahl eine ziemlich erhebliche gewesen sein muſs. Sie sind unter den Geiseln vertreten, welche Karl der Groſse aus dem Volke nahm 7. Neben den Adeligen und Freien wurden sie zur Ausstattung der christlichen Kirchen herangezogen 8. Die Heerpflicht erstreckte sich in Sachsen auch auf die Liten 9. Ja, nach einer Nach- richt, deren Glaubwürdigkeit allerdings nicht ohne Grund bestritten wird, wären sie vor der Unterwerfung durch Abgeordnete auf allge- meinen sächsischen Stammesversammlungen vertreten gewesen 10. Von 2 Z2 f. RG III 18 ff. 3 Eine Halbteilung des Wergeldes zwischen Fiskus und Sippe konzedierte den königlichen Aldien König Liutprand in der Notitia de actoribus c. 4. 4 Die Traditiones Fuldenses unterscheiden lidi pleni und lidi dimidii, jenach- dem sie volle oder halbe Litendienste zu leisten haben. 5 Lex Salica 26, 1, Cod. 5—9 und Emendata: si quis litum alienum qui apud dominum in hoste fuerit, … ingenuum dimiserit. Winogradoff, Forschungen XVIII 189 will emendieren: qui a domino suo in hoste dimissus fuerit … in- genuum dimiserit. 6 Lex Fris. 11, 1 oben S 103 Anm 3. 7 Annal. Laureshamenses zum J. 780 MG SS I 31. 8 Cap. de part. Sax. c. 15, I 69. 9 S. die Stellen bei Waitz, VG IV 537 und Roth, BW S 406 f. 10 Hucbald, Vita S. Lebuini, MG SS II 361. Siehe W. Sickel, Der deutsche Freistaat S 196 Anm 5. Die Vita ist erst im 10. Jahrh. verfaſst worden.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/257>, abgerufen am 25.04.2024.