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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.
beanspruchten Beachtung trotz des etwaigen Widerspruches, der
zwischen ihnen und den Rechtssystemen der verschiedenen Stämme
bestand6.

Bei dieser Ausdehnung fränkischen Rechtes hat unter den frän-
kischen Stammesrechten, soweit zwischen ihnen Verschiedenheiten
obwalteten, in merowingischer Zeit das salische, in karolingischer das
ribuarische die führende Rolle. Unter den Merowingern geschah sie
mehr durch den Zug der thatsächlichen Verhältnisse als aus bewusster
Absicht. Unter den Karolingern war sie nur eine vereinzelte Äusserung
des politischen Strebens, die zwischen Neustrien und Austrasien be-
stehenden Gegensätze auszugleichen. Die zentralisierende Tendenz
ging in dieser Zeit so weit, dass sogar das Projekt auftauchte, die
Rechtseinheit auf dem Wege der Gesetzgebung herzustellen. Von
Karl dem Grossen wird uns berichtet, dass er nach der Kaiserkrönung
den Plan gefasst habe, wenigstens die Verschiedenheiten zwischen den
beiden fränkischen Volksrechten zu beseitigen7. In der Zeit Ludwigs
des Frommen, unter welchem die Einheitsbestrebungen hauptsächlich
von der hohen fränkischen Geistlichkeit verfochten wurden, sprach
ein fränkischer Prälat, Bischof Agobard von Lyon, den Wunsch aus,
es möge das fränkische Stammesrecht zum allgemeinen Reichsrechte
werden, damit alle Unterthanen wie unter der Herrschaft eines Königs,
so auch unter der Herrschaft eines Rechtes ständen8. Wenn auch
diese Pläne nicht zur Ausführung gelangten, so waren doch gegen
Ende der fränkischen Zeit bemerkenswerte Anfänge einer das ganze
Reich umspannenden Rechtseinheit vorhanden. Jene Gemeinsamkeit
der Rechtsinstitutionen, die das germanisch-romanische Mittelalter vor
der Rezeption des römischen Rechtes aufzuweisen hat, ist eine Rechts-
gemeinschaft der Länder, welche im fränkischen Reiche eine gemein-
same Rechtsentwicklung durchgemacht hatten oder wie England durch
die normannische Eroberung nachträglich in den Wellenschlag der-
selben hineingezogen worden sind.

6 Dieses Verhältnis tritt namentlich im Gebiete des Langobardenrechtes grell
hervor. Siehe unten § 56 S 388.
7 Einhard, Vita Karoli c. 29: post susceptum imperiale nomen cum ad-
verteret multa legibus populi sui deesse -- nam Franci duas habent leges, in pluri-
mis locis valde diversas --, cogitavit quae deerant addere et discrepantia unire,
prava quoque ac perperam prolata corrigere; sed de his nihil aliud ab eo factum
est, nisi quod pauca capitula et ea inperfecta, legibus addidit.
8 Atque utinam placeret omnipotenti Deo, ut sub uno piissimo rege una omnes
regerentur lege, ea ipsa ad quam et ipse vivit, et proximi eius respondent. Adversus
legem Gundobadi liber (Agobardi opera ed. Baluzius I 113 ff.) c. 14.

§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.
beanspruchten Beachtung trotz des etwaigen Widerspruches, der
zwischen ihnen und den Rechtssystemen der verschiedenen Stämme
bestand6.

Bei dieser Ausdehnung fränkischen Rechtes hat unter den frän-
kischen Stammesrechten, soweit zwischen ihnen Verschiedenheiten
obwalteten, in merowingischer Zeit das salische, in karolingischer das
ribuarische die führende Rolle. Unter den Merowingern geschah sie
mehr durch den Zug der thatsächlichen Verhältnisse als aus bewuſster
Absicht. Unter den Karolingern war sie nur eine vereinzelte Äuſserung
des politischen Strebens, die zwischen Neustrien und Austrasien be-
stehenden Gegensätze auszugleichen. Die zentralisierende Tendenz
ging in dieser Zeit so weit, daſs sogar das Projekt auftauchte, die
Rechtseinheit auf dem Wege der Gesetzgebung herzustellen. Von
Karl dem Groſsen wird uns berichtet, daſs er nach der Kaiserkrönung
den Plan gefaſst habe, wenigstens die Verschiedenheiten zwischen den
beiden fränkischen Volksrechten zu beseitigen7. In der Zeit Ludwigs
des Frommen, unter welchem die Einheitsbestrebungen hauptsächlich
von der hohen fränkischen Geistlichkeit verfochten wurden, sprach
ein fränkischer Prälat, Bischof Agobard von Lyon, den Wunsch aus,
es möge das fränkische Stammesrecht zum allgemeinen Reichsrechte
werden, damit alle Unterthanen wie unter der Herrschaft eines Königs,
so auch unter der Herrschaft eines Rechtes ständen8. Wenn auch
diese Pläne nicht zur Ausführung gelangten, so waren doch gegen
Ende der fränkischen Zeit bemerkenswerte Anfänge einer das ganze
Reich umspannenden Rechtseinheit vorhanden. Jene Gemeinsamkeit
der Rechtsinstitutionen, die das germanisch-romanische Mittelalter vor
der Rezeption des römischen Rechtes aufzuweisen hat, ist eine Rechts-
gemeinschaft der Länder, welche im fränkischen Reiche eine gemein-
same Rechtsentwicklung durchgemacht hatten oder wie England durch
die normannische Eroberung nachträglich in den Wellenschlag der-
selben hineingezogen worden sind.

6 Dieses Verhältnis tritt namentlich im Gebiete des Langobardenrechtes grell
hervor. Siehe unten § 56 S 388.
7 Einhard, Vita Karoli c. 29: post susceptum imperiale nomen cum ad-
verteret multa legibus populi sui deesse — nam Franci duas habent leges, in pluri-
mis locis valde diversas —, cogitavit quae deerant addere et discrepantia unire,
prava quoque ac perperam prolata corrigere; sed de his nihil aliud ab eo factum
est, nisi quod pauca capitula et ea inperfecta, legibus addidit.
8 Atque utinam placeret omnipotenti Deo, ut sub uno piissimo rege una omnes
regerentur lege, ea ipsa ad quam et ipse vivit, et proximi eius respondent. Adversus
legem Gundobadi liber (Agobardi opera ed. Baluzius I 113 ff.) c. 14.
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[258/0276] § 33. Vielheit und Einheit des Rechtes. beanspruchten Beachtung trotz des etwaigen Widerspruches, der zwischen ihnen und den Rechtssystemen der verschiedenen Stämme bestand 6. Bei dieser Ausdehnung fränkischen Rechtes hat unter den frän- kischen Stammesrechten, soweit zwischen ihnen Verschiedenheiten obwalteten, in merowingischer Zeit das salische, in karolingischer das ribuarische die führende Rolle. Unter den Merowingern geschah sie mehr durch den Zug der thatsächlichen Verhältnisse als aus bewuſster Absicht. Unter den Karolingern war sie nur eine vereinzelte Äuſserung des politischen Strebens, die zwischen Neustrien und Austrasien be- stehenden Gegensätze auszugleichen. Die zentralisierende Tendenz ging in dieser Zeit so weit, daſs sogar das Projekt auftauchte, die Rechtseinheit auf dem Wege der Gesetzgebung herzustellen. Von Karl dem Groſsen wird uns berichtet, daſs er nach der Kaiserkrönung den Plan gefaſst habe, wenigstens die Verschiedenheiten zwischen den beiden fränkischen Volksrechten zu beseitigen 7. In der Zeit Ludwigs des Frommen, unter welchem die Einheitsbestrebungen hauptsächlich von der hohen fränkischen Geistlichkeit verfochten wurden, sprach ein fränkischer Prälat, Bischof Agobard von Lyon, den Wunsch aus, es möge das fränkische Stammesrecht zum allgemeinen Reichsrechte werden, damit alle Unterthanen wie unter der Herrschaft eines Königs, so auch unter der Herrschaft eines Rechtes ständen 8. Wenn auch diese Pläne nicht zur Ausführung gelangten, so waren doch gegen Ende der fränkischen Zeit bemerkenswerte Anfänge einer das ganze Reich umspannenden Rechtseinheit vorhanden. Jene Gemeinsamkeit der Rechtsinstitutionen, die das germanisch-romanische Mittelalter vor der Rezeption des römischen Rechtes aufzuweisen hat, ist eine Rechts- gemeinschaft der Länder, welche im fränkischen Reiche eine gemein- same Rechtsentwicklung durchgemacht hatten oder wie England durch die normannische Eroberung nachträglich in den Wellenschlag der- selben hineingezogen worden sind. 6 Dieses Verhältnis tritt namentlich im Gebiete des Langobardenrechtes grell hervor. Siehe unten § 56 S 388. 7 Einhard, Vita Karoli c. 29: post susceptum imperiale nomen cum ad- verteret multa legibus populi sui deesse — nam Franci duas habent leges, in pluri- mis locis valde diversas —, cogitavit quae deerant addere et discrepantia unire, prava quoque ac perperam prolata corrigere; sed de his nihil aliud ab eo factum est, nisi quod pauca capitula et ea inperfecta, legibus addidit. 8 Atque utinam placeret omnipotenti Deo, ut sub uno piissimo rege una omnes regerentur lege, ea ipsa ad quam et ipse vivit, et proximi eius respondent. Adversus legem Gundobadi liber (Agobardi opera ed. Baluzius I 113 ff.) c. 14.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/276>, abgerufen am 28.03.2024.