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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts.
Quellenarmut, welche die nachfränkische Zeit charakterisiert. Den ent-
scheidenden Impuls zur schriftlichen Fixierung des Rechts gab nach
Abschluss der sogen. Völkerwanderung die Einwirkung der christlich-
römischen Kultur. Als um die Mitte des neunten Jahrhunderts im
fränkischen Reiche der Zug zur Bildung nationaler Staaten wirksam
zu werden begann, versiegte die Quelle des geschriebenen Rechtes,
um während der vier Jahrhunderte, in welchen Deutschland und
Frankreich an der Entwicklung einer nationalen Kultur arbeiteten,
kaum wieder zum Vorschein zu kommen. Der innere Zusammenhang,
welcher zwischen der Entstehung des geschriebenen Rechts und dem
Eintritt der Germanen in die römische Kulturwelt obwaltet, kenn-
zeichnet sich in der Reihenfolge, in welcher die Rechtsaufzeichnung
bei den verschiedenen Stämmen einsetzt, und in der Sprache der
Rechtsquellen, die bei den Südgermanen des Festlandes durchweg
die lateinische ist.

Die Westgoten, die Burgunder und die Langobarden besitzen,
nachdem etwa fünfzig bis fünfundsiebenzig Jahre seit ihrer Nieder-
lassung auf römischer Erde verflossen waren, Rechtsaufzeichnungen
erheblichen Umfangs. Von den deutschen Stämmen des fränkischen
Reiches haben jene, welche an der westlichen und südlichen Grenze
des deutschen Sprachgebietes sassen und sich hier mit der römischen
Bevölkerung örtlich berührten, noch in merowingischer Zeit die
Satzung und Aufzeichnung ihres Rechtes vorgenommen. Zuerst die
Salfranken, deren ältestes Volksrecht jedenfalls bald nach ihrem Ein-
rücken in die römischen Gebiete entstand, dann die Ribuarier, die
Schwaben und gegen Ausgang der merowingischen Periode die Baiern.
Dagegen empfingen die im Norden und in der Mitte Deutschlands
wohnenden Stämme, welche nicht in unmittelbarem Kontakt mit
römischer Bevölkerung standen, die Friesen, die Sachsen, die chama-
vischen Franken, die Angeln und Warnen Thüringens geschriebene
Rechtsquellen erst in der karolingischen Zeit. Diese stehen in Umfang
und Inhalt hinter den reichhaltigeren Volksrechten der merowingischen
Periode bedeutend zurück. Die geringe Zahl der Handschriften, welche
uns von den karolingischen Volksrechten überliefert und bezeugt
sind 1, lässt ersehen, dass das geschriebene Recht als solches bei den
nördlichen und mittleren Stämmen durchaus nicht so hohe Bedeutung
erlangte wie bei den west- und süddeutschen Stämmen, deren Volks-

1 Von der Lex Frisionum haben wir keine, von der Lex Angliorum et
Werinorum eine Handschrift. Die Lex Saxonum und die Lex Chamavorum sind
in je zwei Handschriften überliefert.

§ 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts.
Quellenarmut, welche die nachfränkische Zeit charakterisiert. Den ent-
scheidenden Impuls zur schriftlichen Fixierung des Rechts gab nach
Abschluſs der sogen. Völkerwanderung die Einwirkung der christlich-
römischen Kultur. Als um die Mitte des neunten Jahrhunderts im
fränkischen Reiche der Zug zur Bildung nationaler Staaten wirksam
zu werden begann, versiegte die Quelle des geschriebenen Rechtes,
um während der vier Jahrhunderte, in welchen Deutschland und
Frankreich an der Entwicklung einer nationalen Kultur arbeiteten,
kaum wieder zum Vorschein zu kommen. Der innere Zusammenhang,
welcher zwischen der Entstehung des geschriebenen Rechts und dem
Eintritt der Germanen in die römische Kulturwelt obwaltet, kenn-
zeichnet sich in der Reihenfolge, in welcher die Rechtsaufzeichnung
bei den verschiedenen Stämmen einsetzt, und in der Sprache der
Rechtsquellen, die bei den Südgermanen des Festlandes durchweg
die lateinische ist.

Die Westgoten, die Burgunder und die Langobarden besitzen,
nachdem etwa fünfzig bis fünfundsiebenzig Jahre seit ihrer Nieder-
lassung auf römischer Erde verflossen waren, Rechtsaufzeichnungen
erheblichen Umfangs. Von den deutschen Stämmen des fränkischen
Reiches haben jene, welche an der westlichen und südlichen Grenze
des deutschen Sprachgebietes saſsen und sich hier mit der römischen
Bevölkerung örtlich berührten, noch in merowingischer Zeit die
Satzung und Aufzeichnung ihres Rechtes vorgenommen. Zuerst die
Salfranken, deren ältestes Volksrecht jedenfalls bald nach ihrem Ein-
rücken in die römischen Gebiete entstand, dann die Ribuarier, die
Schwaben und gegen Ausgang der merowingischen Periode die Baiern.
Dagegen empfingen die im Norden und in der Mitte Deutschlands
wohnenden Stämme, welche nicht in unmittelbarem Kontakt mit
römischer Bevölkerung standen, die Friesen, die Sachsen, die chama-
vischen Franken, die Angeln und Warnen Thüringens geschriebene
Rechtsquellen erst in der karolingischen Zeit. Diese stehen in Umfang
und Inhalt hinter den reichhaltigeren Volksrechten der merowingischen
Periode bedeutend zurück. Die geringe Zahl der Handschriften, welche
uns von den karolingischen Volksrechten überliefert und bezeugt
sind 1, läſst ersehen, daſs das geschriebene Recht als solches bei den
nördlichen und mittleren Stämmen durchaus nicht so hohe Bedeutung
erlangte wie bei den west- und süddeutschen Stämmen, deren Volks-

1 Von der Lex Frisionum haben wir keine, von der Lex Angliorum et
Werinorum eine Handschrift. Die Lex Saxonum und die Lex Chamavorum sind
in je zwei Handschriften überliefert.
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[283/0301] § 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts. Quellenarmut, welche die nachfränkische Zeit charakterisiert. Den ent- scheidenden Impuls zur schriftlichen Fixierung des Rechts gab nach Abschluſs der sogen. Völkerwanderung die Einwirkung der christlich- römischen Kultur. Als um die Mitte des neunten Jahrhunderts im fränkischen Reiche der Zug zur Bildung nationaler Staaten wirksam zu werden begann, versiegte die Quelle des geschriebenen Rechtes, um während der vier Jahrhunderte, in welchen Deutschland und Frankreich an der Entwicklung einer nationalen Kultur arbeiteten, kaum wieder zum Vorschein zu kommen. Der innere Zusammenhang, welcher zwischen der Entstehung des geschriebenen Rechts und dem Eintritt der Germanen in die römische Kulturwelt obwaltet, kenn- zeichnet sich in der Reihenfolge, in welcher die Rechtsaufzeichnung bei den verschiedenen Stämmen einsetzt, und in der Sprache der Rechtsquellen, die bei den Südgermanen des Festlandes durchweg die lateinische ist. Die Westgoten, die Burgunder und die Langobarden besitzen, nachdem etwa fünfzig bis fünfundsiebenzig Jahre seit ihrer Nieder- lassung auf römischer Erde verflossen waren, Rechtsaufzeichnungen erheblichen Umfangs. Von den deutschen Stämmen des fränkischen Reiches haben jene, welche an der westlichen und südlichen Grenze des deutschen Sprachgebietes saſsen und sich hier mit der römischen Bevölkerung örtlich berührten, noch in merowingischer Zeit die Satzung und Aufzeichnung ihres Rechtes vorgenommen. Zuerst die Salfranken, deren ältestes Volksrecht jedenfalls bald nach ihrem Ein- rücken in die römischen Gebiete entstand, dann die Ribuarier, die Schwaben und gegen Ausgang der merowingischen Periode die Baiern. Dagegen empfingen die im Norden und in der Mitte Deutschlands wohnenden Stämme, welche nicht in unmittelbarem Kontakt mit römischer Bevölkerung standen, die Friesen, die Sachsen, die chama- vischen Franken, die Angeln und Warnen Thüringens geschriebene Rechtsquellen erst in der karolingischen Zeit. Diese stehen in Umfang und Inhalt hinter den reichhaltigeren Volksrechten der merowingischen Periode bedeutend zurück. Die geringe Zahl der Handschriften, welche uns von den karolingischen Volksrechten überliefert und bezeugt sind 1, läſst ersehen, daſs das geschriebene Recht als solches bei den nördlichen und mittleren Stämmen durchaus nicht so hohe Bedeutung erlangte wie bei den west- und süddeutschen Stämmen, deren Volks- 1 Von der Lex Frisionum haben wir keine, von der Lex Angliorum et Werinorum eine Handschrift. Die Lex Saxonum und die Lex Chamavorum sind in je zwei Handschriften überliefert.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/301>, abgerufen am 29.03.2024.