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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 38. Die Volksrechte.
Leges videlicet Salicae, Ripuariae, Allemannorum, Baioariorum, Saxonum, West-
phalorum, Angliorum, Werinorum, Thuringorum, Frisionum, Burgundionum, Lango-
bardorum ..., Basileae (1557).

Volksrechte, Leges nennen wir die Aufzeichnungen der Stammes-
rechte. Im Gegensatz zu den für die Römer bestimmenden Leges
Romanae werden sie wohl auch Leges Barbarorum genannt. Selbst
nennen sich einzelne derselben pactus, lex, ewa, edictus.

Die Volksrechte stellen sich zum Teile als Satzungen, zum Teile
als Weistümer dar 1. Manche haben in dieser Beziehung einen ziem-
lich einheitlichen Charakter. So erweist sich z. B. das burgundische
Volksrecht als eine amtliche Sammlung von Konstitutionen, die im
Namen des Königs erlassen worden sind. Andrerseits besitzen wir
eine Lex aus karolingischer Zeit, die Ewa Chamavorum, welche nichts
als ein über das chamavische Gewohnheitsrecht abgegebenes Weistum
ist. In manchen Volksrechten tragen dagegen einzelne Bestandteile
den ausgeprägten Charakter der Satzung, andere den des Weistums
an sich. Im grossen und ganzen darf wohl die überwiegende Masse
des in den deutschen Volksrechten enthaltenen Rechtsstoffes als ein
zur Zeit der Aufzeichnung bereits geltendes Gewohnheitsrecht be-
trachtet werden 2. Denn auch die darin enthaltenen Satzungen sind
durchaus nicht immer Satzungen neuen Rechts, sondern sanktionieren
oft nur das bereits geltende Recht. Nicht ausnahmslos gehen die uns
vorliegenden Texte der Volksrechte auf amtliche Redaktion zurück.
In einzelnen Leges finden sich eingeschobene Stücke, die als Privat-
aufzeichnungen über das bestehende Gewohnheitsrecht anzusehen sind.

Da das Volksrecht begrifflich das auf dem Willen des Volkes
beruhende Recht ist, lässt sich allenthalben eine mehr oder minder
weit gehende Teilnahme des Volkes an der Rechtssatzung wahr-
nehmen oder voraussetzen. Das Volk erscheint entweder als der
massgebende Faktor der Satzung, wie bei den Salfranken, wo sie aus
der Initiative des Volkes hervorging, und bei den Alamannen, wo der
Inhalt der Lex von den Angesehensten des Stammes mit dem Herzog
und übrigen Volke vereinbart worden ist 3. Oder die Satzung geschah
zwar aus der Initiative und im Namen des Königs, aber unter Zu-
stimmung des Volkes. So liess der Langobardenkönig Rothari sein
Edikt vom Volke durch einen rechtsförmlichen Akt, nämlich durch ein

1 Zu weit geht Siegel, Deutsche RG S 28 ff., wenn er die dort aufgezählten
deutschen Volksrechte schlechtweg für Satzungen erklärt.
2 So sagt Rothari 386: presentem edictum ... rememorantes antiquas legis
patrum nostrorum quae scriptae non erant, condedimus.
3 So nach den Eingangsworten der Lantfridana, LL III 84.

§ 38. Die Volksrechte.
Leges videlicet Salicae, Ripuariae, Allemannorum, Baioariorum, Saxonum, West-
phalorum, Angliorum, Werinorum, Thuringorum, Frisionum, Burgundionum, Lango-
bardorum …, Basileae (1557).

Volksrechte, Leges nennen wir die Aufzeichnungen der Stammes-
rechte. Im Gegensatz zu den für die Römer bestimmenden Leges
Romanae werden sie wohl auch Leges Barbarorum genannt. Selbst
nennen sich einzelne derselben pactus, lex, ewa, edictus.

Die Volksrechte stellen sich zum Teile als Satzungen, zum Teile
als Weistümer dar 1. Manche haben in dieser Beziehung einen ziem-
lich einheitlichen Charakter. So erweist sich z. B. das burgundische
Volksrecht als eine amtliche Sammlung von Konstitutionen, die im
Namen des Königs erlassen worden sind. Andrerseits besitzen wir
eine Lex aus karolingischer Zeit, die Ewa Chamavorum, welche nichts
als ein über das chamavische Gewohnheitsrecht abgegebenes Weistum
ist. In manchen Volksrechten tragen dagegen einzelne Bestandteile
den ausgeprägten Charakter der Satzung, andere den des Weistums
an sich. Im groſsen und ganzen darf wohl die überwiegende Masse
des in den deutschen Volksrechten enthaltenen Rechtsstoffes als ein
zur Zeit der Aufzeichnung bereits geltendes Gewohnheitsrecht be-
trachtet werden 2. Denn auch die darin enthaltenen Satzungen sind
durchaus nicht immer Satzungen neuen Rechts, sondern sanktionieren
oft nur das bereits geltende Recht. Nicht ausnahmslos gehen die uns
vorliegenden Texte der Volksrechte auf amtliche Redaktion zurück.
In einzelnen Leges finden sich eingeschobene Stücke, die als Privat-
aufzeichnungen über das bestehende Gewohnheitsrecht anzusehen sind.

Da das Volksrecht begrifflich das auf dem Willen des Volkes
beruhende Recht ist, läſst sich allenthalben eine mehr oder minder
weit gehende Teilnahme des Volkes an der Rechtssatzung wahr-
nehmen oder voraussetzen. Das Volk erscheint entweder als der
maſsgebende Faktor der Satzung, wie bei den Salfranken, wo sie aus
der Initiative des Volkes hervorging, und bei den Alamannen, wo der
Inhalt der Lex von den Angesehensten des Stammes mit dem Herzog
und übrigen Volke vereinbart worden ist 3. Oder die Satzung geschah
zwar aus der Initiative und im Namen des Königs, aber unter Zu-
stimmung des Volkes. So lieſs der Langobardenkönig Rothari sein
Edikt vom Volke durch einen rechtsförmlichen Akt, nämlich durch ein

1 Zu weit geht Siegel, Deutsche RG S 28 ff., wenn er die dort aufgezählten
deutschen Volksrechte schlechtweg für Satzungen erklärt.
2 So sagt Rothari 386: presentem edictum … rememorantes antiquas legis
patrum nostrorum quae scriptae non erant, condedimus.
3 So nach den Eingangsworten der Lantfridana, LL III 84.
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[286/0304] § 38. Die Volksrechte. Leges videlicet Salicae, Ripuariae, Allemannorum, Baioariorum, Saxonum, West- phalorum, Angliorum, Werinorum, Thuringorum, Frisionum, Burgundionum, Lango- bardorum …, Basileae (1557). Volksrechte, Leges nennen wir die Aufzeichnungen der Stammes- rechte. Im Gegensatz zu den für die Römer bestimmenden Leges Romanae werden sie wohl auch Leges Barbarorum genannt. Selbst nennen sich einzelne derselben pactus, lex, ewa, edictus. Die Volksrechte stellen sich zum Teile als Satzungen, zum Teile als Weistümer dar 1. Manche haben in dieser Beziehung einen ziem- lich einheitlichen Charakter. So erweist sich z. B. das burgundische Volksrecht als eine amtliche Sammlung von Konstitutionen, die im Namen des Königs erlassen worden sind. Andrerseits besitzen wir eine Lex aus karolingischer Zeit, die Ewa Chamavorum, welche nichts als ein über das chamavische Gewohnheitsrecht abgegebenes Weistum ist. In manchen Volksrechten tragen dagegen einzelne Bestandteile den ausgeprägten Charakter der Satzung, andere den des Weistums an sich. Im groſsen und ganzen darf wohl die überwiegende Masse des in den deutschen Volksrechten enthaltenen Rechtsstoffes als ein zur Zeit der Aufzeichnung bereits geltendes Gewohnheitsrecht be- trachtet werden 2. Denn auch die darin enthaltenen Satzungen sind durchaus nicht immer Satzungen neuen Rechts, sondern sanktionieren oft nur das bereits geltende Recht. Nicht ausnahmslos gehen die uns vorliegenden Texte der Volksrechte auf amtliche Redaktion zurück. In einzelnen Leges finden sich eingeschobene Stücke, die als Privat- aufzeichnungen über das bestehende Gewohnheitsrecht anzusehen sind. Da das Volksrecht begrifflich das auf dem Willen des Volkes beruhende Recht ist, läſst sich allenthalben eine mehr oder minder weit gehende Teilnahme des Volkes an der Rechtssatzung wahr- nehmen oder voraussetzen. Das Volk erscheint entweder als der maſsgebende Faktor der Satzung, wie bei den Salfranken, wo sie aus der Initiative des Volkes hervorging, und bei den Alamannen, wo der Inhalt der Lex von den Angesehensten des Stammes mit dem Herzog und übrigen Volke vereinbart worden ist 3. Oder die Satzung geschah zwar aus der Initiative und im Namen des Königs, aber unter Zu- stimmung des Volkes. So lieſs der Langobardenkönig Rothari sein Edikt vom Volke durch einen rechtsförmlichen Akt, nämlich durch ein 1 Zu weit geht Siegel, Deutsche RG S 28 ff., wenn er die dort aufgezählten deutschen Volksrechte schlechtweg für Satzungen erklärt. 2 So sagt Rothari 386: presentem edictum … rememorantes antiquas legis patrum nostrorum quae scriptae non erant, condedimus. 3 So nach den Eingangsworten der Lantfridana, LL III 84.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/304>, abgerufen am 18.04.2024.