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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 45. Die Lex Frisionum.

Die Lex Frisionum 1 unterscheidet drei Rechtsgebiete Frieslands,
nämlich Mittelfriesland von dem Flie, dem Ausfluss der Zuidersee, bis
zur Laveke, Ostfriesland von der Laveke bis zur Weser und West-
friesland vom Flie bis zum Sinkfal (Zwin) nördlich von Brügge.

Der Grundtext der Lex 2 zerfällt in zwei Hauptbestandteile, die
eigentliche Lex in 22 Titeln und einen Abschnitt, der als Additio
sapientum bezeichnet ist. Zu letzterem gehören auch einige Kapitel
mit der Überschrift: Haec iudicia Wulemarus dictavit, welche von
Herold irrtümlich als ein Bestandteil der Lex Angliorum et Weri-
norum abgedruckt worden sind 3. Sowohl die Lex als auch die Additio
enthalten eingeschobene Stellen, die sich auf die Sonderrechte von
Ost- und Westfriesland beziehen 4.

Die das Recht der beiden Seitenlande betreffenden Zusätze sind
westlich von dem Flie abgefasst, denn Westfriesland wird darin als
das Land cis Fli bezeichnet. Der Grundtext und seine Titelüber-
schriften enthalten etwa zwanzig deutsche Wörter, darunter keines,
welches auf die Mundarten Mittelfrieslands oder Ostfrieslands hin-
weist, wohl aber solche, die daraus nicht erklärt werden können 5,
sondern jenen fränkischen Dialekten zufallen, welche uns später in
Brabant, Holland und Seeland entgegentreten.

Das friesische Volksrecht hat keinen einheitlichen Charakter, sondern
enthält eine Reihe der heterogensten Bestimmungen. Einerseits finden
sich Rechtssätze, welche die Durchführung des Christentums voraus-
setzen, so das Verbot der Sonntagsarbeit, der Schutz des Kirchen-

1 Die Überschrift: Incipit lex Frisionum, scheint eine Zuthat Herolds zu sein.
Die Lex sagt: Fresiones, Fresia, fresionicus. Auch Lex Rib. 36, 4 hat die Form
Fresionem.
2 Handschriften der Lex sind uns nicht erhalten. Herold giebt seinen Text,
der uns den Mangel an Handschriften ersetzen muss, nicht als die vollständige Lex.
Denn er fügt am Schluss seines Textes die Worte bei: Haec hactenus. Man ver-
gleiche die Bemerkung hinter der unvollständig abgedruckten Lex Burg. oben S 332
Anm 5.
3 Die einzige Handschrift, die wir von der Lex Angliorum besitzen, hat dieses
Einschiebsel nicht.
4 Herolds Druck hat eine Reihe von Zusätzen mit kleinerer Kursivschrift
und eingezogenen Zeilen. Wie De Geer a. O. S 140 mit Recht bemerkt, müssen
sie sich schon in Herolds Vorlage als Marginal- oder Interlinearglossen oder
sonstwie von dem Grundtexte unterschieden haben. Die von Richthofen kursiv
gedruckten Sätze decken sich nicht mit den von Herold ausgezeichneten Stellen.
5 Z. B. notnumfti in Tit. 8, thiubda in Tit. 3, durslegi in 22, 3, liduwagi in
22, 35 und Add. 3, 32. Über pant in Add. 8, 2 s. Richthofens Anmerkung in
LL III 694.
§ 45. Die Lex Frisionum.

Die Lex Frisionum 1 unterscheidet drei Rechtsgebiete Frieslands,
nämlich Mittelfriesland von dem Flie, dem Ausfluſs der Zuidersee, bis
zur Laveke, Ostfriesland von der Laveke bis zur Weser und West-
friesland vom Flie bis zum Sinkfal (Zwin) nördlich von Brügge.

Der Grundtext der Lex 2 zerfällt in zwei Hauptbestandteile, die
eigentliche Lex in 22 Titeln und einen Abschnitt, der als Additio
sapientum bezeichnet ist. Zu letzterem gehören auch einige Kapitel
mit der Überschrift: Haec iudicia Wulemarus dictavit, welche von
Herold irrtümlich als ein Bestandteil der Lex Angliorum et Weri-
norum abgedruckt worden sind 3. Sowohl die Lex als auch die Additio
enthalten eingeschobene Stellen, die sich auf die Sonderrechte von
Ost- und Westfriesland beziehen 4.

Die das Recht der beiden Seitenlande betreffenden Zusätze sind
westlich von dem Flie abgefaſst, denn Westfriesland wird darin als
das Land cis Fli bezeichnet. Der Grundtext und seine Titelüber-
schriften enthalten etwa zwanzig deutsche Wörter, darunter keines,
welches auf die Mundarten Mittelfrieslands oder Ostfrieslands hin-
weist, wohl aber solche, die daraus nicht erklärt werden können 5,
sondern jenen fränkischen Dialekten zufallen, welche uns später in
Brabant, Holland und Seeland entgegentreten.

Das friesische Volksrecht hat keinen einheitlichen Charakter, sondern
enthält eine Reihe der heterogensten Bestimmungen. Einerseits finden
sich Rechtssätze, welche die Durchführung des Christentums voraus-
setzen, so das Verbot der Sonntagsarbeit, der Schutz des Kirchen-

1 Die Überschrift: Incipit lex Frisionum, scheint eine Zuthat Herolds zu sein.
Die Lex sagt: Fresiones, Fresia, fresionicus. Auch Lex Rib. 36, 4 hat die Form
Fresionem.
2 Handschriften der Lex sind uns nicht erhalten. Herold giebt seinen Text,
der uns den Mangel an Handschriften ersetzen muſs, nicht als die vollständige Lex.
Denn er fügt am Schluſs seines Textes die Worte bei: Haec hactenus. Man ver-
gleiche die Bemerkung hinter der unvollständig abgedruckten Lex Burg. oben S 332
Anm 5.
3 Die einzige Handschrift, die wir von der Lex Angliorum besitzen, hat dieses
Einschiebsel nicht.
4 Herolds Druck hat eine Reihe von Zusätzen mit kleinerer Kursivschrift
und eingezogenen Zeilen. Wie De Geer a. O. S 140 mit Recht bemerkt, müssen
sie sich schon in Herolds Vorlage als Marginal- oder Interlinearglossen oder
sonstwie von dem Grundtexte unterschieden haben. Die von Richthofen kursiv
gedruckten Sätze decken sich nicht mit den von Herold ausgezeichneten Stellen.
5 Z. B. notnumfti in Tit. 8, thiubda in Tit. 3, durslegi in 22, 3, liduwagi in
22, 35 und Add. 3, 32. Über pant in Add. 8, 2 s. Richthofens Anmerkung in
LL III 694.
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[341/0359] § 45. Die Lex Frisionum. Die Lex Frisionum 1 unterscheidet drei Rechtsgebiete Frieslands, nämlich Mittelfriesland von dem Flie, dem Ausfluſs der Zuidersee, bis zur Laveke, Ostfriesland von der Laveke bis zur Weser und West- friesland vom Flie bis zum Sinkfal (Zwin) nördlich von Brügge. Der Grundtext der Lex 2 zerfällt in zwei Hauptbestandteile, die eigentliche Lex in 22 Titeln und einen Abschnitt, der als Additio sapientum bezeichnet ist. Zu letzterem gehören auch einige Kapitel mit der Überschrift: Haec iudicia Wulemarus dictavit, welche von Herold irrtümlich als ein Bestandteil der Lex Angliorum et Weri- norum abgedruckt worden sind 3. Sowohl die Lex als auch die Additio enthalten eingeschobene Stellen, die sich auf die Sonderrechte von Ost- und Westfriesland beziehen 4. Die das Recht der beiden Seitenlande betreffenden Zusätze sind westlich von dem Flie abgefaſst, denn Westfriesland wird darin als das Land cis Fli bezeichnet. Der Grundtext und seine Titelüber- schriften enthalten etwa zwanzig deutsche Wörter, darunter keines, welches auf die Mundarten Mittelfrieslands oder Ostfrieslands hin- weist, wohl aber solche, die daraus nicht erklärt werden können 5, sondern jenen fränkischen Dialekten zufallen, welche uns später in Brabant, Holland und Seeland entgegentreten. Das friesische Volksrecht hat keinen einheitlichen Charakter, sondern enthält eine Reihe der heterogensten Bestimmungen. Einerseits finden sich Rechtssätze, welche die Durchführung des Christentums voraus- setzen, so das Verbot der Sonntagsarbeit, der Schutz des Kirchen- 1 Die Überschrift: Incipit lex Frisionum, scheint eine Zuthat Herolds zu sein. Die Lex sagt: Fresiones, Fresia, fresionicus. Auch Lex Rib. 36, 4 hat die Form Fresionem. 2 Handschriften der Lex sind uns nicht erhalten. Herold giebt seinen Text, der uns den Mangel an Handschriften ersetzen muſs, nicht als die vollständige Lex. Denn er fügt am Schluſs seines Textes die Worte bei: Haec hactenus. Man ver- gleiche die Bemerkung hinter der unvollständig abgedruckten Lex Burg. oben S 332 Anm 5. 3 Die einzige Handschrift, die wir von der Lex Angliorum besitzen, hat dieses Einschiebsel nicht. 4 Herolds Druck hat eine Reihe von Zusätzen mit kleinerer Kursivschrift und eingezogenen Zeilen. Wie De Geer a. O. S 140 mit Recht bemerkt, müssen sie sich schon in Herolds Vorlage als Marginal- oder Interlinearglossen oder sonstwie von dem Grundtexte unterschieden haben. Die von Richthofen kursiv gedruckten Sätze decken sich nicht mit den von Herold ausgezeichneten Stellen. 5 Z. B. notnumfti in Tit. 8, thiubda in Tit. 3, durslegi in 22, 3, liduwagi in 22, 35 und Add. 3, 32. Über pant in Add. 8, 2 s. Richthofens Anmerkung in LL III 694.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/359>, abgerufen am 19.04.2024.