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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 51. Die Lex Romana Curiensis
nicht frei von Ausdrücken, welche der fränkischen Rechtsterminologie
angehören.

Streitig ist das Geltungsgebiet, streitig der Entstehungsort und
die Entstehungszeit der Lex.

Der Verfasser, vermutlich ein Geistlicher, will wie die Epitoma-
toren des Breviars römisches Recht überhaupt darstellen, sind es doch
vorzugsweise Konstitutionen römischer Kaiser, die er exzerpiert. So-
weit er vom Breviarium abweicht, fasst er das zu seiner Zeit praktisch
geltende römische Recht ins Auge. Wo er örtliche Rechtssätze oder
Rechtsausdrücke aufnimmt, bringt er sich nicht zum Bewusstsein, dass
sie nicht allgemein anwendbar seien, wo römisches Recht gilt.

Ausser Zweifel steht, dass die Lex in Churrätien praktisch an-
gewendet worden ist. Von den drei überlieferten Handschriften
stammen zwei aus der Ostschweiz. Eine Urkunde aus Rankweil im
heutigen Vorarlberg enthält eine Bezugnahme auf die Lex 1. Nicht
unwahrscheinlich ist, dass sie in dem gesamten rätisch-romanischen
Gebiete und darüber hinaus bis nach Istrien zur Geltung gelangte.
Denn die dritte Handschrift, die wir von ihr besitzen, hat sich einst
zu Aquileja befunden.

Den Entstehungsort der Lex hat man in Istrien 2, in Oberitalien 3
und in Churrätien 4 gesucht. Für ihre rätische Herkunft sprechen
durchschlagende Gründe. Die Lex enthält Wörter, welche wir, wie
atto und atta für avus und ava, hornungus 5 für filius naturalis, weder
in Istrien, noch in Italien, wohl aber auf rätisch-alamannischem Boden
nachweisen können. Nur in Rätien finden wir die der Lex eigen-
tümliche Form des Wortes Falsicia für Falcidia und die technische
Anwendung dieses Ausdruckes für quarta pars, die im Anschluss an
den Wortlaut der Lex entstanden ist 6. Gegen Istrien spricht die
Ämterverfassung der Lex, gegen Istrien und gegen Oberitalien der
starke Einfluss des fränkischen Rechtes.

Die Abfassungszeit pflegte man früher in das achte Jahrhundert
zu setzen. Allein die Rechte, welche die principes als grosse Kron-
vasallen ausüben, die Behandlung der Knechte nach den Grundsätzen
des Immobiliarrechtes und die vorgeschrittene Entwicklung des Lehn-

1 Wartmann, UB. von St. Gallen II Nr 421.
2 Bethmann-Hollweg und Wagner.
3 Savigny und neuerdings Schupfer. Man stützt sich dafür auf den Fund-
ort der Handschrift von Aquileja-Udine, allein ihr Text steht nach Zeumer dem
der St. Galler so nahe, dass eine gemeinsame Vorlage anzunehmen ist.
4 Hegel, Haenel, Stobbe, Pertile und v. Salis.
5 Z2 f. RG IV 266.
6 Z2 f. RG IV 265, VI 156.

§ 51. Die Lex Romana Curiensis
nicht frei von Ausdrücken, welche der fränkischen Rechtsterminologie
angehören.

Streitig ist das Geltungsgebiet, streitig der Entstehungsort und
die Entstehungszeit der Lex.

Der Verfasser, vermutlich ein Geistlicher, will wie die Epitoma-
toren des Breviars römisches Recht überhaupt darstellen, sind es doch
vorzugsweise Konstitutionen römischer Kaiser, die er exzerpiert. So-
weit er vom Breviarium abweicht, faſst er das zu seiner Zeit praktisch
geltende römische Recht ins Auge. Wo er örtliche Rechtssätze oder
Rechtsausdrücke aufnimmt, bringt er sich nicht zum Bewuſstsein, daſs
sie nicht allgemein anwendbar seien, wo römisches Recht gilt.

Auſser Zweifel steht, daſs die Lex in Churrätien praktisch an-
gewendet worden ist. Von den drei überlieferten Handschriften
stammen zwei aus der Ostschweiz. Eine Urkunde aus Rankweil im
heutigen Vorarlberg enthält eine Bezugnahme auf die Lex 1. Nicht
unwahrscheinlich ist, daſs sie in dem gesamten rätisch-romanischen
Gebiete und darüber hinaus bis nach Istrien zur Geltung gelangte.
Denn die dritte Handschrift, die wir von ihr besitzen, hat sich einst
zu Aquileja befunden.

Den Entstehungsort der Lex hat man in Istrien 2, in Oberitalien 3
und in Churrätien 4 gesucht. Für ihre rätische Herkunft sprechen
durchschlagende Gründe. Die Lex enthält Wörter, welche wir, wie
atto und atta für avus und ava, hornungus 5 für filius naturalis, weder
in Istrien, noch in Italien, wohl aber auf rätisch-alamannischem Boden
nachweisen können. Nur in Rätien finden wir die der Lex eigen-
tümliche Form des Wortes Falsicia für Falcidia und die technische
Anwendung dieses Ausdruckes für quarta pars, die im Anschluſs an
den Wortlaut der Lex entstanden ist 6. Gegen Istrien spricht die
Ämterverfassung der Lex, gegen Istrien und gegen Oberitalien der
starke Einfluſs des fränkischen Rechtes.

Die Abfassungszeit pflegte man früher in das achte Jahrhundert
zu setzen. Allein die Rechte, welche die principes als groſse Kron-
vasallen ausüben, die Behandlung der Knechte nach den Grundsätzen
des Immobiliarrechtes und die vorgeschrittene Entwicklung des Lehn-

1 Wartmann, UB. von St. Gallen II Nr 421.
2 Bethmann-Hollweg und Wagner.
3 Savigny und neuerdings Schupfer. Man stützt sich dafür auf den Fund-
ort der Handschrift von Aquileja-Udine, allein ihr Text steht nach Zeumer dem
der St. Galler so nahe, daſs eine gemeinsame Vorlage anzunehmen ist.
4 Hegel, Haenel, Stobbe, Pertile und v. Salis.
5 Z2 f. RG IV 266.
6 Z2 f. RG IV 265, VI 156.
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[362/0380] § 51. Die Lex Romana Curiensis nicht frei von Ausdrücken, welche der fränkischen Rechtsterminologie angehören. Streitig ist das Geltungsgebiet, streitig der Entstehungsort und die Entstehungszeit der Lex. Der Verfasser, vermutlich ein Geistlicher, will wie die Epitoma- toren des Breviars römisches Recht überhaupt darstellen, sind es doch vorzugsweise Konstitutionen römischer Kaiser, die er exzerpiert. So- weit er vom Breviarium abweicht, faſst er das zu seiner Zeit praktisch geltende römische Recht ins Auge. Wo er örtliche Rechtssätze oder Rechtsausdrücke aufnimmt, bringt er sich nicht zum Bewuſstsein, daſs sie nicht allgemein anwendbar seien, wo römisches Recht gilt. Auſser Zweifel steht, daſs die Lex in Churrätien praktisch an- gewendet worden ist. Von den drei überlieferten Handschriften stammen zwei aus der Ostschweiz. Eine Urkunde aus Rankweil im heutigen Vorarlberg enthält eine Bezugnahme auf die Lex 1. Nicht unwahrscheinlich ist, daſs sie in dem gesamten rätisch-romanischen Gebiete und darüber hinaus bis nach Istrien zur Geltung gelangte. Denn die dritte Handschrift, die wir von ihr besitzen, hat sich einst zu Aquileja befunden. Den Entstehungsort der Lex hat man in Istrien 2, in Oberitalien 3 und in Churrätien 4 gesucht. Für ihre rätische Herkunft sprechen durchschlagende Gründe. Die Lex enthält Wörter, welche wir, wie atto und atta für avus und ava, hornungus 5 für filius naturalis, weder in Istrien, noch in Italien, wohl aber auf rätisch-alamannischem Boden nachweisen können. Nur in Rätien finden wir die der Lex eigen- tümliche Form des Wortes Falsicia für Falcidia und die technische Anwendung dieses Ausdruckes für quarta pars, die im Anschluſs an den Wortlaut der Lex entstanden ist 6. Gegen Istrien spricht die Ämterverfassung der Lex, gegen Istrien und gegen Oberitalien der starke Einfluſs des fränkischen Rechtes. Die Abfassungszeit pflegte man früher in das achte Jahrhundert zu setzen. Allein die Rechte, welche die principes als groſse Kron- vasallen ausüben, die Behandlung der Knechte nach den Grundsätzen des Immobiliarrechtes und die vorgeschrittene Entwicklung des Lehn- 1 Wartmann, UB. von St. Gallen II Nr 421. 2 Bethmann-Hollweg und Wagner. 3 Savigny und neuerdings Schupfer. Man stützt sich dafür auf den Fund- ort der Handschrift von Aquileja-Udine, allein ihr Text steht nach Zeumer dem der St. Galler so nahe, daſs eine gemeinsame Vorlage anzunehmen ist. 4 Hegel, Haenel, Stobbe, Pertile und v. Salis. 5 Z2 f. RG IV 266. 6 Z2 f. RG IV 265, VI 156.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/380>, abgerufen am 19.04.2024.