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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 102. Die Wette im Rechtsgang.
Streitobjekt herauszugeben, falls sie den Beweis nicht führen werde 57.
Die praktische Bedeutung solchen Versprechens lag nur in der Be-
fugnis und Pflicht der Bürgen, an Stelle der beweisfälligen Partei den
Sieger in den Besitz des Streitgegenstandes zu setzen, sofern ein neues
richterliches Urteil es ihnen befahl. Regel war aber, dass die beweis-
pflichtige Partei gemäss dem einzüngigen Beweisurteil nur den Beweis,
nicht auch die eventuelle Befriedigung ausdrücklich gelobte, da diese
erst durch ein Endurteil bestimmt wurde. Handelte es sich um einen
Parteieid, so lautete das Beweisgelöbnis schlechtweg dahin, den Eid in
der auferlegten Weise zu schwören. Die jüngere langobardische Juris-
prudenz nahm im Geiste ihrer Buchstabeninterpretation sittlichen An-
stoss an dem unbedingten Versprechen des Eides; sie fasste daher das
Gelöbnis des Beweispflichtigen alternativ und liess ihn versprechen,
dass er, falls er zum Bewusstsein seines Unrechts gelange, Sühne
leisten, anderenfalls aber den Eid schwören werde 58.

§ 102. Die Wette im Rechtsgang.

Siegel, GV S. 219. Sohm, Process der Lex Salica S. 163. Derselbe, Das
Recht der Eheschliessung 1875, S. 37 ff. Val de Lievre, Launegild und
Wadia 1877, S. 134. Franken, Das französische Pfandrecht des Mittelalters
1879, S. 220. Rich. Loening, Der Vertragsbruch im deutschen Recht 1876,
S. 9. 33. 121 ff. Heusler, Institutionen II 230. Esmein, Etudes sur les con-
trats dans le tres ancien droit francais 1883, S. 71 ff.

Ist das Urteil rechtsgültig zu stande gekommen und nicht ge-
scholten worden, so schliessen die Parteien vor Gericht einen Vertrag,
der dem Inhalte des Urteils entspricht. Dieser Vertrag besteht darin,
dass die Partei das durch das Urteil verlangte Gelöbnis abgiebt, ihr
Widersacher es entgegennimmt. Der Sachfällige verspricht die Befrie-
digung des Gegners, wenn das Urteil Endurteil war und auf Sühne
lautete. War es nur Beweisurteil, so gelobt jener Teil, dem die Beweis-

57 Reg. di Farfa Nr. 95 v. J. 776: spoponderunt ante nos, ut si cum testibus
suis minime ... essent parati, fideiussores retraderent .. ipsum casalem. Da die
Beweispflichtigen den Beweis nicht liefern, befiehlt der Richter den Bürgen, ut
retraderent abbati ipsum casalem.
58 Formel des Liber Papiensis zu Liu. 60: da vadia, si te recordatus fueris,
quod emendes, si non, iures sicut lex est. Formel zu Wido 3: ut si te recor-
datus fueris, ut emendes, si non, ut te exdicas. Vgl. die Formeln zu Roth. 361,
Liu. 30, Ludwig 23. 31, Wido 4. 9, Glosse zu Roth. 9. Ein Rückschluss auf
ein zweizüngiges Urteil in der Weise des fränkischen Rechtes darf daraus nicht
gezogen werden, wie sich schon darin zeigt, dass die Sühne in erster Linie, und
zwar nur unter der Bedingung, si se recordatus fuerit, versprochen wird.

§ 102. Die Wette im Rechtsgang.
Streitobjekt herauszugeben, falls sie den Beweis nicht führen werde 57.
Die praktische Bedeutung solchen Versprechens lag nur in der Be-
fugnis und Pflicht der Bürgen, an Stelle der beweisfälligen Partei den
Sieger in den Besitz des Streitgegenstandes zu setzen, sofern ein neues
richterliches Urteil es ihnen befahl. Regel war aber, daſs die beweis-
pflichtige Partei gemäſs dem einzüngigen Beweisurteil nur den Beweis,
nicht auch die eventuelle Befriedigung ausdrücklich gelobte, da diese
erst durch ein Endurteil bestimmt wurde. Handelte es sich um einen
Parteieid, so lautete das Beweisgelöbnis schlechtweg dahin, den Eid in
der auferlegten Weise zu schwören. Die jüngere langobardische Juris-
prudenz nahm im Geiste ihrer Buchstabeninterpretation sittlichen An-
stoſs an dem unbedingten Versprechen des Eides; sie faſste daher das
Gelöbnis des Beweispflichtigen alternativ und lieſs ihn versprechen,
daſs er, falls er zum Bewuſstsein seines Unrechts gelange, Sühne
leisten, anderenfalls aber den Eid schwören werde 58.

§ 102. Die Wette im Rechtsgang.

Siegel, GV S. 219. Sohm, Proceſs der Lex Salica S. 163. Derselbe, Das
Recht der Eheschlieſsung 1875, S. 37 ff. Val de Liévre, Launegild und
Wadia 1877, S. 134. Franken, Das französische Pfandrecht des Mittelalters
1879, S. 220. Rich. Loening, Der Vertragsbruch im deutschen Recht 1876,
S. 9. 33. 121 ff. Heusler, Institutionen II 230. Esmein, Études sur les con-
trats dans le très ancien droit français 1883, S. 71 ff.

Ist das Urteil rechtsgültig zu stande gekommen und nicht ge-
scholten worden, so schlieſsen die Parteien vor Gericht einen Vertrag,
der dem Inhalte des Urteils entspricht. Dieser Vertrag besteht darin,
daſs die Partei das durch das Urteil verlangte Gelöbnis abgiebt, ihr
Widersacher es entgegennimmt. Der Sachfällige verspricht die Befrie-
digung des Gegners, wenn das Urteil Endurteil war und auf Sühne
lautete. War es nur Beweisurteil, so gelobt jener Teil, dem die Beweis-

57 Reg. di Farfa Nr. 95 v. J. 776: spoponderunt ante nos, ut si cum testibus
suis minime … essent parati, fideiussores retraderent .. ipsum casalem. Da die
Beweispflichtigen den Beweis nicht liefern, befiehlt der Richter den Bürgen, ut
retraderent abbati ipsum casalem.
58 Formel des Liber Papiensis zu Liu. 60: da vadia, si te recordatus fueris,
quod emendes, si non, iures sicut lex est. Formel zu Wido 3: ut si te recor-
datus fueris, ut emendes, si non, ut te exdicas. Vgl. die Formeln zu Roth. 361,
Liu. 30, Ludwig 23. 31, Wido 4. 9, Glosse zu Roth. 9. Ein Rückschluſs auf
ein zweizüngiges Urteil in der Weise des fränkischen Rechtes darf daraus nicht
gezogen werden, wie sich schon darin zeigt, daſs die Sühne in erster Linie, und
zwar nur unter der Bedingung, si se recordatus fuerit, versprochen wird.
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[365/0383] § 102. Die Wette im Rechtsgang. Streitobjekt herauszugeben, falls sie den Beweis nicht führen werde 57. Die praktische Bedeutung solchen Versprechens lag nur in der Be- fugnis und Pflicht der Bürgen, an Stelle der beweisfälligen Partei den Sieger in den Besitz des Streitgegenstandes zu setzen, sofern ein neues richterliches Urteil es ihnen befahl. Regel war aber, daſs die beweis- pflichtige Partei gemäſs dem einzüngigen Beweisurteil nur den Beweis, nicht auch die eventuelle Befriedigung ausdrücklich gelobte, da diese erst durch ein Endurteil bestimmt wurde. Handelte es sich um einen Parteieid, so lautete das Beweisgelöbnis schlechtweg dahin, den Eid in der auferlegten Weise zu schwören. Die jüngere langobardische Juris- prudenz nahm im Geiste ihrer Buchstabeninterpretation sittlichen An- stoſs an dem unbedingten Versprechen des Eides; sie faſste daher das Gelöbnis des Beweispflichtigen alternativ und lieſs ihn versprechen, daſs er, falls er zum Bewuſstsein seines Unrechts gelange, Sühne leisten, anderenfalls aber den Eid schwören werde 58. § 102. Die Wette im Rechtsgang. Siegel, GV S. 219. Sohm, Proceſs der Lex Salica S. 163. Derselbe, Das Recht der Eheschlieſsung 1875, S. 37 ff. Val de Liévre, Launegild und Wadia 1877, S. 134. Franken, Das französische Pfandrecht des Mittelalters 1879, S. 220. Rich. Loening, Der Vertragsbruch im deutschen Recht 1876, S. 9. 33. 121 ff. Heusler, Institutionen II 230. Esmein, Études sur les con- trats dans le très ancien droit français 1883, S. 71 ff. Ist das Urteil rechtsgültig zu stande gekommen und nicht ge- scholten worden, so schlieſsen die Parteien vor Gericht einen Vertrag, der dem Inhalte des Urteils entspricht. Dieser Vertrag besteht darin, daſs die Partei das durch das Urteil verlangte Gelöbnis abgiebt, ihr Widersacher es entgegennimmt. Der Sachfällige verspricht die Befrie- digung des Gegners, wenn das Urteil Endurteil war und auf Sühne lautete. War es nur Beweisurteil, so gelobt jener Teil, dem die Beweis- 57 Reg. di Farfa Nr. 95 v. J. 776: spoponderunt ante nos, ut si cum testibus suis minime … essent parati, fideiussores retraderent .. ipsum casalem. Da die Beweispflichtigen den Beweis nicht liefern, befiehlt der Richter den Bürgen, ut retraderent abbati ipsum casalem. 58 Formel des Liber Papiensis zu Liu. 60: da vadia, si te recordatus fueris, quod emendes, si non, iures sicut lex est. Formel zu Wido 3: ut si te recor- datus fueris, ut emendes, si non, ut te exdicas. Vgl. die Formeln zu Roth. 361, Liu. 30, Ludwig 23. 31, Wido 4. 9, Glosse zu Roth. 9. Ein Rückschluſs auf ein zweizüngiges Urteil in der Weise des fränkischen Rechtes darf daraus nicht gezogen werden, wie sich schon darin zeigt, daſs die Sühne in erster Linie, und zwar nur unter der Bedingung, si se recordatus fuerit, versprochen wird.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/383>, abgerufen am 18.04.2024.