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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 74. Die königliche Kanzlei.
Karolingern gelegentlich auch notarius genannt. Unter Ludwig I. be-
schränkt sich die offizielle Anwendung des Wortes Notar auf jene
Kanzleibeamten, die unter dem Kanzler stehen und befugt sind, ihn
als Rekognoscenten zu vertreten. Daneben giebt es Schreiber, welche
diese Vollmacht nicht besitzen.

Seit 819 wird die Stellung des Kanzlers eine vornehmere. Da-
mals erhielt Fridugis, ein adliger Angelsachse, das Kanzleramt, und
seitdem sind es nur noch angesehene Männer, denen es verliehen
wird. Früher hatte der Kanzler regelmässig im eigenen Namen re-
kognosciert, nur im Bedürfnisfalle sich vertreten lassen und wohl auch
selbst den Kontext einer Urkunde geschrieben. Seit 819 begnügt sich
der Kanzler mit der Oberleitung der Kanzlei, giebt den Befehl zur
Ausfertigung der Urkunde17 und lässt sich in der Rekognoscierung,
die in seinem Namen erfolgt, stets von einem der untergeordneten
Notare vertreten. Mit der Entlastung des Kanzlers von den eigent-
lichen Kanzleigeschäften hängt es zusammen, dass er noch unter Lud-
wig I. die auszeichnenden Titel summus cancellarius, archinotarius,
summus notarius erhält.

Unter Ludwig dem Deutschen wurde 856 die Oberleitung der
Kanzlei mit dem Amte des obersten Hofkaplans, des archicapellanus,
vereinigt. Dieser war Vorsteher der Hofkapelle, übte die Aufsicht
und geistliche Zucht über die am Hofe lebenden Geistlichen mit Ein-
schluss des Kanzleipersonals und hatte dem König in kirchlichen An-
gelegenheiten Vortrag zu halten18. Solange das Amt des Kanzlers
auf die Kanzlei beschränkt war, vermochte er keinen nennenswerten
Einfluss auf die politischen Angelegenheiten des Reiches zu gewinnen,
während andererseits das Kanzleipersonal auch in Zeiten politischen
Umschwungs stabil blieb. Das änderte sich, seit der Leiter der Kanzlei
zugleich Haupt der Hofklerisei und geistlicher Minister geworden war.

Im Jahre 870 wurde Erzbischof Liutbert von Mainz Erzkanzler.
Unter Karl III. schwang sich dessen Günstling Liutward zum Leiter
der Kanzlei und zum Erzkaplan auf. Unter ihm bürgerte sich der
Titel archicancellarius, Erzkanzler, ein. Der des Erzkaplans tritt da-

Ostgothische Studien S. 478. Aber schon in der Interpretatio zu Cod. Theod. IX
19, 1 heisst es: tabellio vero, qui ammanuensis nunc vel cancellarius dicitur.
17 Früher ging der Urkundungsbefehl regelmässig vom Könige selbst aus.
18 Hinkmar von Reims, der ihn mit tendenziöser Vorliebe behandelt, nennt
ihn, De ordine palatii c. 13 ff., apocrisiarius. Doch folgt schon aus Hinkmars eige-
nen Worten in c. 16: apocrisiarius autem, quem nostrates capellanum vel palatii
custodem appellant, dass jener Titel von ihm erfunden und im fränkischen Reiche
nicht gebräuchlich war. Prou, Hincmar, De ordine pal. S. 34, Anm. 2.

§ 74. Die königliche Kanzlei.
Karolingern gelegentlich auch notarius genannt. Unter Ludwig I. be-
schränkt sich die offizielle Anwendung des Wortes Notar auf jene
Kanzleibeamten, die unter dem Kanzler stehen und befugt sind, ihn
als Rekognoscenten zu vertreten. Daneben giebt es Schreiber, welche
diese Vollmacht nicht besitzen.

Seit 819 wird die Stellung des Kanzlers eine vornehmere. Da-
mals erhielt Fridugis, ein adliger Angelsachse, das Kanzleramt, und
seitdem sind es nur noch angesehene Männer, denen es verliehen
wird. Früher hatte der Kanzler regelmäſsig im eigenen Namen re-
kognosciert, nur im Bedürfnisfalle sich vertreten lassen und wohl auch
selbst den Kontext einer Urkunde geschrieben. Seit 819 begnügt sich
der Kanzler mit der Oberleitung der Kanzlei, giebt den Befehl zur
Ausfertigung der Urkunde17 und läſst sich in der Rekognoscierung,
die in seinem Namen erfolgt, stets von einem der untergeordneten
Notare vertreten. Mit der Entlastung des Kanzlers von den eigent-
lichen Kanzleigeschäften hängt es zusammen, daſs er noch unter Lud-
wig I. die auszeichnenden Titel summus cancellarius, archinotarius,
summus notarius erhält.

Unter Ludwig dem Deutschen wurde 856 die Oberleitung der
Kanzlei mit dem Amte des obersten Hofkaplans, des archicapellanus,
vereinigt. Dieser war Vorsteher der Hofkapelle, übte die Aufsicht
und geistliche Zucht über die am Hofe lebenden Geistlichen mit Ein-
schluſs des Kanzleipersonals und hatte dem König in kirchlichen An-
gelegenheiten Vortrag zu halten18. Solange das Amt des Kanzlers
auf die Kanzlei beschränkt war, vermochte er keinen nennenswerten
Einfluſs auf die politischen Angelegenheiten des Reiches zu gewinnen,
während andererseits das Kanzleipersonal auch in Zeiten politischen
Umschwungs stabil blieb. Das änderte sich, seit der Leiter der Kanzlei
zugleich Haupt der Hofklerisei und geistlicher Minister geworden war.

Im Jahre 870 wurde Erzbischof Liutbert von Mainz Erzkanzler.
Unter Karl III. schwang sich dessen Günstling Liutward zum Leiter
der Kanzlei und zum Erzkaplan auf. Unter ihm bürgerte sich der
Titel archicancellarius, Erzkanzler, ein. Der des Erzkaplans tritt da-

Ostgothische Studien S. 478. Aber schon in der Interpretatio zu Cod. Theod. IX
19, 1 heiſst es: tabellio vero, qui ammanuensis nunc vel cancellarius dicitur.
17 Früher ging der Urkundungsbefehl regelmäſsig vom Könige selbst aus.
18 Hinkmar von Reims, der ihn mit tendenziöser Vorliebe behandelt, nennt
ihn, De ordine palatii c. 13 ff., apocrisiarius. Doch folgt schon aus Hinkmars eige-
nen Worten in c. 16: apocrisiarius autem, quem nostrates capellanum vel palatii
custodem appellant, daſs jener Titel von ihm erfunden und im fränkischen Reiche
nicht gebräuchlich war. Prou, Hincmar, De ordine pal. S. 34, Anm. 2.
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[116/0134] § 74. Die königliche Kanzlei. Karolingern gelegentlich auch notarius genannt. Unter Ludwig I. be- schränkt sich die offizielle Anwendung des Wortes Notar auf jene Kanzleibeamten, die unter dem Kanzler stehen und befugt sind, ihn als Rekognoscenten zu vertreten. Daneben giebt es Schreiber, welche diese Vollmacht nicht besitzen. Seit 819 wird die Stellung des Kanzlers eine vornehmere. Da- mals erhielt Fridugis, ein adliger Angelsachse, das Kanzleramt, und seitdem sind es nur noch angesehene Männer, denen es verliehen wird. Früher hatte der Kanzler regelmäſsig im eigenen Namen re- kognosciert, nur im Bedürfnisfalle sich vertreten lassen und wohl auch selbst den Kontext einer Urkunde geschrieben. Seit 819 begnügt sich der Kanzler mit der Oberleitung der Kanzlei, giebt den Befehl zur Ausfertigung der Urkunde 17 und läſst sich in der Rekognoscierung, die in seinem Namen erfolgt, stets von einem der untergeordneten Notare vertreten. Mit der Entlastung des Kanzlers von den eigent- lichen Kanzleigeschäften hängt es zusammen, daſs er noch unter Lud- wig I. die auszeichnenden Titel summus cancellarius, archinotarius, summus notarius erhält. Unter Ludwig dem Deutschen wurde 856 die Oberleitung der Kanzlei mit dem Amte des obersten Hofkaplans, des archicapellanus, vereinigt. Dieser war Vorsteher der Hofkapelle, übte die Aufsicht und geistliche Zucht über die am Hofe lebenden Geistlichen mit Ein- schluſs des Kanzleipersonals und hatte dem König in kirchlichen An- gelegenheiten Vortrag zu halten 18. Solange das Amt des Kanzlers auf die Kanzlei beschränkt war, vermochte er keinen nennenswerten Einfluſs auf die politischen Angelegenheiten des Reiches zu gewinnen, während andererseits das Kanzleipersonal auch in Zeiten politischen Umschwungs stabil blieb. Das änderte sich, seit der Leiter der Kanzlei zugleich Haupt der Hofklerisei und geistlicher Minister geworden war. Im Jahre 870 wurde Erzbischof Liutbert von Mainz Erzkanzler. Unter Karl III. schwang sich dessen Günstling Liutward zum Leiter der Kanzlei und zum Erzkaplan auf. Unter ihm bürgerte sich der Titel archicancellarius, Erzkanzler, ein. Der des Erzkaplans tritt da- 16 17 Früher ging der Urkundungsbefehl regelmäſsig vom Könige selbst aus. 18 Hinkmar von Reims, der ihn mit tendenziöser Vorliebe behandelt, nennt ihn, De ordine palatii c. 13 ff., apocrisiarius. Doch folgt schon aus Hinkmars eige- nen Worten in c. 16: apocrisiarius autem, quem nostrates capellanum vel palatii custodem appellant, daſs jener Titel von ihm erfunden und im fränkischen Reiche nicht gebräuchlich war. Prou, Hincmar, De ordine pal. S. 34, Anm. 2. 16 Ostgothische Studien S. 478. Aber schon in der Interpretatio zu Cod. Theod. IX 19, 1 heiſst es: tabellio vero, qui ammanuensis nunc vel cancellarius dicitur.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/134>, abgerufen am 25.04.2024.