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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 59. Einleitung.
mit deutscher Bevölkerung blieben diese Einrichtungen fremd, wogegen
hinwiederum die fränkische Hundertschaft in manchen Strichen Galliens
erst spät oder gar nicht Wurzel fasste. Verschieden gestaltete sich auch
das Ämterwesen in den verschiedenen Teilen des Reiches 1. Stellung
und Kompetenz des merowingischen Grafen, mochte er nun ein Franke
oder ein Römer sein, war eine andere, je nachdem er z. B. den pagus
Turonicus oder den Gau der Bataver zu verwalten hatte.

Sehen wir von solchen örtlichen Verschiedenheiten ab, die man
nicht unterschätzen darf, weil sie im Lauf der Entwicklung mehr und
mehr ausgeglichen wurden, fassen wir also nur das einheitliche frän-
kische Staatsrecht ins Auge, so stellt es sich als das Ergebnis einer
Mischung von Rechtssätzen germanischer und römischer Herkunft dar.
Darüber herrscht so ziemlich allgemeine Übereinstimmung 2, und in der
That kann man im Ernste nicht daran zweifeln, dass etwa das frän-
kische Zoll-, Münz- und Kanzleiwesen römische Einflüsse aufweist,
dass andererseits z. B. Heerwesen und Gerichtsdienst auf germanischer
Grundlage beruhen. Bestritten ist aber der verhältnismässige Anteil,
der jedem der beiden geschichtlichen Elemente des fränkischen Staats-
rechts zuzumessen sei. Denn die einen betrachten das germanische 3,
die anderen das römische Recht als den Hauptfaktor 4; manche unter-
lassen es, die Bilanz zu ziehen, oder finden gleiches Gewicht der ver-
glichenen Grössen 5, wogegen eine in jüngster Zeit einseitig verfochtene
Ansicht das Problem durch die Behauptung zu lösen glaubt, das fränkische
Staatsrecht stelle im Verhältnis zu seinen geschichtlichen Vorläufern

1 Schon von Eichhorn in ihren Grundzügen richtig angedeutet, ist diese
Unterscheidung von seinen Nachfolgern mehr als billig übersehen worden.
2 Eine Ausnahme macht Fustel de Coulanges, dem alles römisch ist.
Ein schätzbares, aber eigenartig beschränktes Talent, zimmert sich Fustel de
Coulanges
eine Methode zurecht, die grundsätzlich nur ein räumlich und zeitlich
enge begrenztes Quellengebiet durchsucht, alles andere absichtlich ignoriert, daher
die Quellen vielfach missversteht und vor gewaltsamen Auslegungen nicht zurück-
schreckt, um das vermeintliche Durchschnittsergebnis des Untersuchungsfeldes zu
retten. Es scheint nicht überflüssig, dies zu bemerken; denn es ist Grund zur Be-
sorgnis vorhanden, dass Fustel de Coulanges auch in Deutschland anfängt
Schule zu machen für ein wissenschaftliches Programm, welches zwar mit Recht
gegen den babylonischen Turmbau geistreicher Einfälle opponiert, aber von vorn-
herein jedes Verständnis für den Zusammenhang rechtsgeschichtlicher Entwicklung
ausschliesst, weil es schon den Versuch, zu einem solchen sich durchzuringen, als
unmethodisch verurteilt.
3 Waitz, der VG II 1, S. 81 die Litteratur der Streitfrage bespricht.
Dahn, Deutsche Geschichte II 522. Schröder, RG. S. 108.
4 Z. B. von Sybel und Tardif.
5 So in der Hauptsache Arnold, Fränkische Zeit (1881 S. 113 f.

§ 59. Einleitung.
mit deutscher Bevölkerung blieben diese Einrichtungen fremd, wogegen
hinwiederum die fränkische Hundertschaft in manchen Strichen Galliens
erst spät oder gar nicht Wurzel faſste. Verschieden gestaltete sich auch
das Ämterwesen in den verschiedenen Teilen des Reiches 1. Stellung
und Kompetenz des merowingischen Grafen, mochte er nun ein Franke
oder ein Römer sein, war eine andere, je nachdem er z. B. den pagus
Turonicus oder den Gau der Bataver zu verwalten hatte.

Sehen wir von solchen örtlichen Verschiedenheiten ab, die man
nicht unterschätzen darf, weil sie im Lauf der Entwicklung mehr und
mehr ausgeglichen wurden, fassen wir also nur das einheitliche frän-
kische Staatsrecht ins Auge, so stellt es sich als das Ergebnis einer
Mischung von Rechtssätzen germanischer und römischer Herkunft dar.
Darüber herrscht so ziemlich allgemeine Übereinstimmung 2, und in der
That kann man im Ernste nicht daran zweifeln, daſs etwa das frän-
kische Zoll-, Münz- und Kanzleiwesen römische Einflüsse aufweist,
daſs andererseits z. B. Heerwesen und Gerichtsdienst auf germanischer
Grundlage beruhen. Bestritten ist aber der verhältnismäſsige Anteil,
der jedem der beiden geschichtlichen Elemente des fränkischen Staats-
rechts zuzumessen sei. Denn die einen betrachten das germanische 3,
die anderen das römische Recht als den Hauptfaktor 4; manche unter-
lassen es, die Bilanz zu ziehen, oder finden gleiches Gewicht der ver-
glichenen Gröſsen 5, wogegen eine in jüngster Zeit einseitig verfochtene
Ansicht das Problem durch die Behauptung zu lösen glaubt, das fränkische
Staatsrecht stelle im Verhältnis zu seinen geschichtlichen Vorläufern

1 Schon von Eichhorn in ihren Grundzügen richtig angedeutet, ist diese
Unterscheidung von seinen Nachfolgern mehr als billig übersehen worden.
2 Eine Ausnahme macht Fustel de Coulanges, dem alles römisch ist.
Ein schätzbares, aber eigenartig beschränktes Talent, zimmert sich Fustel de
Coulanges
eine Methode zurecht, die grundsätzlich nur ein räumlich und zeitlich
enge begrenztes Quellengebiet durchsucht, alles andere absichtlich ignoriert, daher
die Quellen vielfach miſsversteht und vor gewaltsamen Auslegungen nicht zurück-
schreckt, um das vermeintliche Durchschnittsergebnis des Untersuchungsfeldes zu
retten. Es scheint nicht überflüssig, dies zu bemerken; denn es ist Grund zur Be-
sorgnis vorhanden, dass Fustel de Coulanges auch in Deutschland anfängt
Schule zu machen für ein wissenschaftliches Programm, welches zwar mit Recht
gegen den babylonischen Turmbau geistreicher Einfälle opponiert, aber von vorn-
herein jedes Verständnis für den Zusammenhang rechtsgeschichtlicher Entwicklung
ausschlieſst, weil es schon den Versuch, zu einem solchen sich durchzuringen, als
unmethodisch verurteilt.
3 Waitz, der VG II 1, S. 81 die Litteratur der Streitfrage bespricht.
Dahn, Deutsche Geschichte II 522. Schröder, RG. S. 108.
4 Z. B. von Sybel und Tardif.
5 So in der Hauptsache Arnold, Fränkische Zeit (1881 S. 113 f.
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[2/0020] § 59. Einleitung. mit deutscher Bevölkerung blieben diese Einrichtungen fremd, wogegen hinwiederum die fränkische Hundertschaft in manchen Strichen Galliens erst spät oder gar nicht Wurzel faſste. Verschieden gestaltete sich auch das Ämterwesen in den verschiedenen Teilen des Reiches 1. Stellung und Kompetenz des merowingischen Grafen, mochte er nun ein Franke oder ein Römer sein, war eine andere, je nachdem er z. B. den pagus Turonicus oder den Gau der Bataver zu verwalten hatte. Sehen wir von solchen örtlichen Verschiedenheiten ab, die man nicht unterschätzen darf, weil sie im Lauf der Entwicklung mehr und mehr ausgeglichen wurden, fassen wir also nur das einheitliche frän- kische Staatsrecht ins Auge, so stellt es sich als das Ergebnis einer Mischung von Rechtssätzen germanischer und römischer Herkunft dar. Darüber herrscht so ziemlich allgemeine Übereinstimmung 2, und in der That kann man im Ernste nicht daran zweifeln, daſs etwa das frän- kische Zoll-, Münz- und Kanzleiwesen römische Einflüsse aufweist, daſs andererseits z. B. Heerwesen und Gerichtsdienst auf germanischer Grundlage beruhen. Bestritten ist aber der verhältnismäſsige Anteil, der jedem der beiden geschichtlichen Elemente des fränkischen Staats- rechts zuzumessen sei. Denn die einen betrachten das germanische 3, die anderen das römische Recht als den Hauptfaktor 4; manche unter- lassen es, die Bilanz zu ziehen, oder finden gleiches Gewicht der ver- glichenen Gröſsen 5, wogegen eine in jüngster Zeit einseitig verfochtene Ansicht das Problem durch die Behauptung zu lösen glaubt, das fränkische Staatsrecht stelle im Verhältnis zu seinen geschichtlichen Vorläufern 1 Schon von Eichhorn in ihren Grundzügen richtig angedeutet, ist diese Unterscheidung von seinen Nachfolgern mehr als billig übersehen worden. 2 Eine Ausnahme macht Fustel de Coulanges, dem alles römisch ist. Ein schätzbares, aber eigenartig beschränktes Talent, zimmert sich Fustel de Coulanges eine Methode zurecht, die grundsätzlich nur ein räumlich und zeitlich enge begrenztes Quellengebiet durchsucht, alles andere absichtlich ignoriert, daher die Quellen vielfach miſsversteht und vor gewaltsamen Auslegungen nicht zurück- schreckt, um das vermeintliche Durchschnittsergebnis des Untersuchungsfeldes zu retten. Es scheint nicht überflüssig, dies zu bemerken; denn es ist Grund zur Be- sorgnis vorhanden, dass Fustel de Coulanges auch in Deutschland anfängt Schule zu machen für ein wissenschaftliches Programm, welches zwar mit Recht gegen den babylonischen Turmbau geistreicher Einfälle opponiert, aber von vorn- herein jedes Verständnis für den Zusammenhang rechtsgeschichtlicher Entwicklung ausschlieſst, weil es schon den Versuch, zu einem solchen sich durchzuringen, als unmethodisch verurteilt. 3 Waitz, der VG II 1, S. 81 die Litteratur der Streitfrage bespricht. Dahn, Deutsche Geschichte II 522. Schröder, RG. S. 108. 4 Z. B. von Sybel und Tardif. 5 So in der Hauptsache Arnold, Fränkische Zeit (1881 S. 113 f.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/20>, abgerufen am 29.03.2024.