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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 84. Der Gerichtschreiber. Das Amtsgesinde.
Rechtsgebiet ein, wo nunmehr gleichfalls Gerichtschreiber als notarii,
ammanuenses oder cancellarii erscheinen.

Das Amt des Gerichtschreibers war ein ständiges. Es bezieht
sich auf alle Malstätten der Grafschaft. Über Grundstücke seines
Amtssprengels konnte er auch ausserhalb desselben Urkunden voll-
ziehen2. Bei der Bestellung des Gerichtschreibers, der mitunter ein
begüterter und angesehener Mann, häufig ein Geistlicher war, sollte
auf die Stimme des Gauvolkes Rücksicht genommen werden3. Karl
der Grosse legte die Ernennung der Gerichtschreiber in die Hand
der königlichen Missi4 und schärfte ein, dass jeder Bischof, Abt und
Graf einen Schreiber haben solle5.

Die Urkunden, die der Gerichtschreiber herstellt, betreffen ent-
weder Rechtsgeschäfte, die vor Gericht abgeschlossen wurden, oder
sie sind Beweisurkunden (notitiae) über Gerichtsverhandlungen. Als
Aussteller erscheint bei diesen nicht das Gericht, sondern die Partei,
die ein Interesse hatte, eine Urkunde zu erhalten. Das Gericht stellte
ihr zu diesem Zwecke den Gerichtschreiber und die Handfestung der
Urkunde von seite des Richters und der Urteilfinder zur Verfügung6.
Die Gebühr, welche für Herstellung der Notitia entrichtet wurde,
teilten Gerichtschreiber, Richter und Schöffen. Ihre Höhe schwankte
nach örtlichem Herkommen7.

Der Gerichtschreiber konnte die Herstellung der Urkunde durch
einen Vertreter besorgen lassen, indem entweder er selbst oder der
Vertreter die Reinschrift unterschrieb, letzterer so, dass er sich in
der Unterschrift der Formel vice cancellarii bedienen mochte8.

Das Amt des Gerichtschreibers fehlte nachweislich in Baiern,
wahrscheinlich auch in Thüringen, Sachsen und Friesland9. Aber

2 Bresslau, Forschungen a. O. S. 50.
3 Ansegis III 43: cancellarius tamen talis esse debet, qui pagensibus loci
illius notus fuisset et acceptus. Vgl. Lex Rom. Curiens. I 11, 2.
4 Cap. miss. v. J. 803, c. 3, I 115.
5 Cap. miss. Theod. v. J. 805, c. 4, I 121 nach einem handschriftlichen Zusatz.
6 Siehe oben I 398 f.
7 Die responsa misso cuidam data von 801--814, Cap. I 145 enthält in c. 2
die Anfrage: si comes de notitia solidum unum accipere deberet et scabinii sive
cancellarius. Der Fragesteller erhält eine Antwort, aus welcher hervorgeht, dass
ein einheitlicher Gebührensatz fehlte. Lex Burg. prima const. § 7 spricht in
Sachen über zehn Solidi dem Notar eine Tremisse zu. In Italien setzte Lothar
832 durch Cap. Pap. c. 13, II 60 für scripta maiora die Gebühr von einem halben
Pfund Silber als Maximum fest; für scripta minora stellte er sie in das Ermessen
des Richters. Waisen und Arme sollten gebührenfrei sein.
8 Bresslau, Forschungen a. O. S. 56.
9 H. Brunner, RG der Urk. I 251 f. Bresslau a. O. S. 62 ff.

§ 84. Der Gerichtschreiber. Das Amtsgesinde.
Rechtsgebiet ein, wo nunmehr gleichfalls Gerichtschreiber als notarii,
ammanuenses oder cancellarii erscheinen.

Das Amt des Gerichtschreibers war ein ständiges. Es bezieht
sich auf alle Malstätten der Grafschaft. Über Grundstücke seines
Amtssprengels konnte er auch auſserhalb desselben Urkunden voll-
ziehen2. Bei der Bestellung des Gerichtschreibers, der mitunter ein
begüterter und angesehener Mann, häufig ein Geistlicher war, sollte
auf die Stimme des Gauvolkes Rücksicht genommen werden3. Karl
der Groſse legte die Ernennung der Gerichtschreiber in die Hand
der königlichen Missi4 und schärfte ein, daſs jeder Bischof, Abt und
Graf einen Schreiber haben solle5.

Die Urkunden, die der Gerichtschreiber herstellt, betreffen ent-
weder Rechtsgeschäfte, die vor Gericht abgeschlossen wurden, oder
sie sind Beweisurkunden (notitiae) über Gerichtsverhandlungen. Als
Aussteller erscheint bei diesen nicht das Gericht, sondern die Partei,
die ein Interesse hatte, eine Urkunde zu erhalten. Das Gericht stellte
ihr zu diesem Zwecke den Gerichtschreiber und die Handfestung der
Urkunde von seite des Richters und der Urteilfinder zur Verfügung6.
Die Gebühr, welche für Herstellung der Notitia entrichtet wurde,
teilten Gerichtschreiber, Richter und Schöffen. Ihre Höhe schwankte
nach örtlichem Herkommen7.

Der Gerichtschreiber konnte die Herstellung der Urkunde durch
einen Vertreter besorgen lassen, indem entweder er selbst oder der
Vertreter die Reinschrift unterschrieb, letzterer so, daſs er sich in
der Unterschrift der Formel vice cancellarii bedienen mochte8.

Das Amt des Gerichtschreibers fehlte nachweislich in Baiern,
wahrscheinlich auch in Thüringen, Sachsen und Friesland9. Aber

2 Breſslau, Forschungen a. O. S. 50.
3 Ansegis III 43: cancellarius tamen talis esse debet, qui pagensibus loci
illius notus fuisset et acceptus. Vgl. Lex Rom. Curiens. I 11, 2.
4 Cap. miss. v. J. 803, c. 3, I 115.
5 Cap. miss. Theod. v. J. 805, c. 4, I 121 nach einem handschriftlichen Zusatz.
6 Siehe oben I 398 f.
7 Die responsa misso cuidam data von 801—814, Cap. I 145 enthält in c. 2
die Anfrage: si comes de notitia solidum unum accipere deberet et scabinii sive
cancellarius. Der Fragesteller erhält eine Antwort, aus welcher hervorgeht, daſs
ein einheitlicher Gebührensatz fehlte. Lex Burg. prima const. § 7 spricht in
Sachen über zehn Solidi dem Notar eine Tremisse zu. In Italien setzte Lothar
832 durch Cap. Pap. c. 13, II 60 für scripta maiora die Gebühr von einem halben
Pfund Silber als Maximum fest; für scripta minora stellte er sie in das Ermessen
des Richters. Waisen und Arme sollten gebührenfrei sein.
8 Breſslau, Forschungen a. O. S. 56.
9 H. Brunner, RG der Urk. I 251 f. Breſslau a. O. S. 62 ff.
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[186/0204] § 84. Der Gerichtschreiber. Das Amtsgesinde. Rechtsgebiet ein, wo nunmehr gleichfalls Gerichtschreiber als notarii, ammanuenses oder cancellarii erscheinen. Das Amt des Gerichtschreibers war ein ständiges. Es bezieht sich auf alle Malstätten der Grafschaft. Über Grundstücke seines Amtssprengels konnte er auch auſserhalb desselben Urkunden voll- ziehen 2. Bei der Bestellung des Gerichtschreibers, der mitunter ein begüterter und angesehener Mann, häufig ein Geistlicher war, sollte auf die Stimme des Gauvolkes Rücksicht genommen werden 3. Karl der Groſse legte die Ernennung der Gerichtschreiber in die Hand der königlichen Missi 4 und schärfte ein, daſs jeder Bischof, Abt und Graf einen Schreiber haben solle 5. Die Urkunden, die der Gerichtschreiber herstellt, betreffen ent- weder Rechtsgeschäfte, die vor Gericht abgeschlossen wurden, oder sie sind Beweisurkunden (notitiae) über Gerichtsverhandlungen. Als Aussteller erscheint bei diesen nicht das Gericht, sondern die Partei, die ein Interesse hatte, eine Urkunde zu erhalten. Das Gericht stellte ihr zu diesem Zwecke den Gerichtschreiber und die Handfestung der Urkunde von seite des Richters und der Urteilfinder zur Verfügung 6. Die Gebühr, welche für Herstellung der Notitia entrichtet wurde, teilten Gerichtschreiber, Richter und Schöffen. Ihre Höhe schwankte nach örtlichem Herkommen 7. Der Gerichtschreiber konnte die Herstellung der Urkunde durch einen Vertreter besorgen lassen, indem entweder er selbst oder der Vertreter die Reinschrift unterschrieb, letzterer so, daſs er sich in der Unterschrift der Formel vice cancellarii bedienen mochte 8. Das Amt des Gerichtschreibers fehlte nachweislich in Baiern, wahrscheinlich auch in Thüringen, Sachsen und Friesland 9. Aber 2 Breſslau, Forschungen a. O. S. 50. 3 Ansegis III 43: cancellarius tamen talis esse debet, qui pagensibus loci illius notus fuisset et acceptus. Vgl. Lex Rom. Curiens. I 11, 2. 4 Cap. miss. v. J. 803, c. 3, I 115. 5 Cap. miss. Theod. v. J. 805, c. 4, I 121 nach einem handschriftlichen Zusatz. 6 Siehe oben I 398 f. 7 Die responsa misso cuidam data von 801—814, Cap. I 145 enthält in c. 2 die Anfrage: si comes de notitia solidum unum accipere deberet et scabinii sive cancellarius. Der Fragesteller erhält eine Antwort, aus welcher hervorgeht, daſs ein einheitlicher Gebührensatz fehlte. Lex Burg. prima const. § 7 spricht in Sachen über zehn Solidi dem Notar eine Tremisse zu. In Italien setzte Lothar 832 durch Cap. Pap. c. 13, II 60 für scripta maiora die Gebühr von einem halben Pfund Silber als Maximum fest; für scripta minora stellte er sie in das Ermessen des Richters. Waisen und Arme sollten gebührenfrei sein. 8 Breſslau, Forschungen a. O. S. 56. 9 H. Brunner, RG der Urk. I 251 f. Breſslau a. O. S. 62 ff.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/204>, abgerufen am 19.04.2024.