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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 101. Urteil und Urteilschelte.
bewanderter Mann, keinen Vorsprecher zu bestellen, sondern das Wort
selbst zu führen. Er hiess daher auch causidicus29, und seine Thätig-
keit konnte wie die des Vorsprechers als causam alienam dicere be-
zeichnet werden30.

§ 101. Urteil und Urteilschelte.

Rogge, Gerichtswesen S. 66 ff. Siegel, Gerichtsverfahren S. 147 ff. Sohm,
Prozess der Lex Salica S. 141. 151. 180. Derselbe, Reichs- und Gerichts-
verfassung S. 64. 124. 386. Bethmann-Hollweg, Civilprozess IV 513, V 122 ff.
169 ff. Schröder, RG S. 363. v. Amira, Recht S. 184 f. 187. Cohn, Die Justiz-
verweigerung im altd. Recht 1876. Heinrich Otto Lehmann, Der Rechts-
schutz gegenüber Eingriffen von Staatsbeamten nach altfränkischem Recht 1883.
Skedl, Die Nichtigkeitsbeschwerde in ihrer geschichtlichen Entwicklung 1886.
S. 7 ff. Thonissen, L'organisation judiciaire 1881, S. 301. Beaudouin, Parti-
cipation des hommes libres au jugement S. 48 ff. Esmein, La chose jugee dans
le droit de la monarchie franque, Nouv. Revue historique de droit francais 1887,
S. 545 ff. Fournier, Essai sur l'histoire du droit d'appel 1881, S. 95 ff.

Nach altfränkischem Rechte fordert die Partei die Rachineburgen
auf, zu sagen, was Rechtens sei. Diese Aufforderung kann schon nach
der Lex Salica zunächst in formloser Weise geschehen. Ist sie er-
folglos, so wird sie in rechtsförmlicher Weise erhoben, indem die
Partei den Zwang des Tangano geltend macht. Nach der Lex Salica
verlangt diesfalls der Kläger das Urteil mit den Worten: hic ego
vos tangano, ut legem dicatis secundum legem Salicam1. Nur wenn
das Tangano vorausgegangen, treten Rechtsfolgen für die Urteilfinder
ein, die es unterlassen, zu sagen, was Rechtens ist. Verweigern sie
es überhaupt, ein Urteil zu finden, so verfällt jeder von ihnen (aber
nicht mehr als sieben) in eine Busse von je drei Solidi an die tanga-
nierende Partei. Die Zahlung der Busse müssen sie vor Sonnenunter-
gang rechtsförmlich versprechen, widrigenfalls die Busse sich auf
15 Solidi erhöht2.

Wer mit dem gefundenen Urteil unzufrieden ist, kann es an-

29 Oben S. 304. Anwälte sind unter dem causidici gemeint in Cap. Theod. II
v. J. 805, c. 8, I 123. Siehe unten S. 361, Anm. 43.
30 Lex Salica 77.
1 Lex Sal. 57, 1. 2.
2 Vermutlich war das in der Friedloslegung gipfelnde Ungehorsamsverfahren
erst bei einem Bussbetrage von fünfzehn Solidi, aber nicht bei geringeren Bussen
zulässig. Fünfzehn Solidi sind auch nach unten hin die Grenze für Anwendung
des Kesselfangs. Lex Salica 53, 1.
23*

§ 101. Urteil und Urteilschelte.
bewanderter Mann, keinen Vorsprecher zu bestellen, sondern das Wort
selbst zu führen. Er hieſs daher auch causidicus29, und seine Thätig-
keit konnte wie die des Vorsprechers als causam alienam dicere be-
zeichnet werden30.

§ 101. Urteil und Urteilschelte.

Rogge, Gerichtswesen S. 66 ff. Siegel, Gerichtsverfahren S. 147 ff. Sohm,
Prozeſs der Lex Salica S. 141. 151. 180. Derselbe, Reichs- und Gerichts-
verfassung S. 64. 124. 386. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 513, V 122 ff.
169 ff. Schröder, RG S. 363. v. Amira, Recht S. 184 f. 187. Cohn, Die Justiz-
verweigerung im altd. Recht 1876. Heinrich Otto Lehmann, Der Rechts-
schutz gegenüber Eingriffen von Staatsbeamten nach altfränkischem Recht 1883.
Skedl, Die Nichtigkeitsbeschwerde in ihrer geschichtlichen Entwicklung 1886.
S. 7 ff. Thonissen, L’organisation judiciaire 1881, S. 301. Beaudouin, Parti-
cipation des hommes libres au jugement S. 48 ff. Esmein, La chose jugée dans
le droit de la monarchie franque, Nouv. Revue historique de droit français 1887,
S. 545 ff. Fournier, Essai sur l’histoire du droit d’appel 1881, S. 95 ff.

Nach altfränkischem Rechte fordert die Partei die Rachineburgen
auf, zu sagen, was Rechtens sei. Diese Aufforderung kann schon nach
der Lex Salica zunächst in formloser Weise geschehen. Ist sie er-
folglos, so wird sie in rechtsförmlicher Weise erhoben, indem die
Partei den Zwang des Tangano geltend macht. Nach der Lex Salica
verlangt diesfalls der Kläger das Urteil mit den Worten: hic ego
vos tangano, ut legem dicatis secundum legem Salicam1. Nur wenn
das Tangano vorausgegangen, treten Rechtsfolgen für die Urteilfinder
ein, die es unterlassen, zu sagen, was Rechtens ist. Verweigern sie
es überhaupt, ein Urteil zu finden, so verfällt jeder von ihnen (aber
nicht mehr als sieben) in eine Buſse von je drei Solidi an die tanga-
nierende Partei. Die Zahlung der Buſse müssen sie vor Sonnenunter-
gang rechtsförmlich versprechen, widrigenfalls die Buſse sich auf
15 Solidi erhöht2.

Wer mit dem gefundenen Urteil unzufrieden ist, kann es an-

29 Oben S. 304. Anwälte sind unter dem causidici gemeint in Cap. Theod. II
v. J. 805, c. 8, I 123. Siehe unten S. 361, Anm. 43.
30 Lex Salica 77.
1 Lex Sal. 57, 1. 2.
2 Vermutlich war das in der Friedloslegung gipfelnde Ungehorsamsverfahren
erst bei einem Buſsbetrage von fünfzehn Solidi, aber nicht bei geringeren Buſsen
zulässig. Fünfzehn Solidi sind auch nach unten hin die Grenze für Anwendung
des Kesselfangs. Lex Salica 53, 1.
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[355/0373] § 101. Urteil und Urteilschelte. bewanderter Mann, keinen Vorsprecher zu bestellen, sondern das Wort selbst zu führen. Er hieſs daher auch causidicus 29, und seine Thätig- keit konnte wie die des Vorsprechers als causam alienam dicere be- zeichnet werden 30. § 101. Urteil und Urteilschelte. Rogge, Gerichtswesen S. 66 ff. Siegel, Gerichtsverfahren S. 147 ff. Sohm, Prozeſs der Lex Salica S. 141. 151. 180. Derselbe, Reichs- und Gerichts- verfassung S. 64. 124. 386. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 513, V 122 ff. 169 ff. Schröder, RG S. 363. v. Amira, Recht S. 184 f. 187. Cohn, Die Justiz- verweigerung im altd. Recht 1876. Heinrich Otto Lehmann, Der Rechts- schutz gegenüber Eingriffen von Staatsbeamten nach altfränkischem Recht 1883. Skedl, Die Nichtigkeitsbeschwerde in ihrer geschichtlichen Entwicklung 1886. S. 7 ff. Thonissen, L’organisation judiciaire 1881, S. 301. Beaudouin, Parti- cipation des hommes libres au jugement S. 48 ff. Esmein, La chose jugée dans le droit de la monarchie franque, Nouv. Revue historique de droit français 1887, S. 545 ff. Fournier, Essai sur l’histoire du droit d’appel 1881, S. 95 ff. Nach altfränkischem Rechte fordert die Partei die Rachineburgen auf, zu sagen, was Rechtens sei. Diese Aufforderung kann schon nach der Lex Salica zunächst in formloser Weise geschehen. Ist sie er- folglos, so wird sie in rechtsförmlicher Weise erhoben, indem die Partei den Zwang des Tangano geltend macht. Nach der Lex Salica verlangt diesfalls der Kläger das Urteil mit den Worten: hic ego vos tangano, ut legem dicatis secundum legem Salicam 1. Nur wenn das Tangano vorausgegangen, treten Rechtsfolgen für die Urteilfinder ein, die es unterlassen, zu sagen, was Rechtens ist. Verweigern sie es überhaupt, ein Urteil zu finden, so verfällt jeder von ihnen (aber nicht mehr als sieben) in eine Buſse von je drei Solidi an die tanga- nierende Partei. Die Zahlung der Buſse müssen sie vor Sonnenunter- gang rechtsförmlich versprechen, widrigenfalls die Buſse sich auf 15 Solidi erhöht 2. Wer mit dem gefundenen Urteil unzufrieden ist, kann es an- 29 Oben S. 304. Anwälte sind unter dem causidici gemeint in Cap. Theod. II v. J. 805, c. 8, I 123. Siehe unten S. 361, Anm. 43. 30 Lex Salica 77. 1 Lex Sal. 57, 1. 2. 2 Vermutlich war das in der Friedloslegung gipfelnde Ungehorsamsverfahren erst bei einem Buſsbetrage von fünfzehn Solidi, aber nicht bei geringeren Buſsen zulässig. Fünfzehn Solidi sind auch nach unten hin die Grenze für Anwendung des Kesselfangs. Lex Salica 53, 1. 23*

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/373>, abgerufen am 19.04.2024.