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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 116. Das Verfahren um handhafte That.
Angeschuldigte, der ohne die gestohlene Sache angeblich als Dieb
von jemand gefangen wurde, sich durch Kampf- oder Kreuzordal oder
mit Eidhelfern reinigen 34. Eine ähnliche Sachlage setzt auch ein
das ostfriesische Recht betreffender Zusatz der Lex Frisionum voraus,
nach welchem der 'deprehensus' die That bestreiten, arglistige An-
schuldigung behaupten und sich durch Kesselfang befreien kann 35.
In allen Fällen, in welchen der Gefangene zur Reinigung gelangte,
musste er selbstverständlicherweise der Bande entledigt worden sein,
in denen man ihn vor den Richter gebracht hatte. Führte er den
Beweis der Unschuld, so war die Bindung eine rechtswidrige und
verfiel deren Urheber in die entsprechende Busse. Das ostfriesische
Recht gestattete dem sachfälligen Kläger, durch Kesselfang den Vor-
wurf der wissentlich falschen Anschuldigung zu entkräften.

Liegt handhafte That vor, ist der Überführungsbeweis gelungen
oder die Rechtmässigkeit der Bindung nicht bestritten worden, so geht
der Richter von Amtswegen vor und verhängt die Strafe, ohne dass
ein wahrer Kläger da ist, der sie verlangt. Der Schuldige verfällt der
Todesstrafe auch um Verbrechen, die sonst nicht mit dem Leben,
sondern in anderer Weise, etwa durch Busszahlung, gesühnt werden,
eine Besonderheit, die sich daraus erklärt, dass die handhafte That
als solche friedlos machte und die Bestrafung des Thäters sich als
eine Vollstreckung der Friedlosigkeit darstellt. Der Richter mag die
Todesstrafe, indem er die Art der Hinrichtung bestimmt, von sich aus
ohne Urteil der Gerichtsgemeinde anordnen. Die Quellen sprechen
diesfalls nicht selten von einem condemnare, von einem iudicium des
Richters 36, Stellen, die nicht auf einen in Wahrheit selbsturteilenden
Richter gedeutet werden dürfen, da es sich im Grunde genommen
nicht um ein wahres Urteil, sondern nur um die Hinrichtung eines
Friedlosen, eines exlex handelt, der bereits durch die That sich selbst
das Urteil gesprochen hatte 37. Die Lösung des verwirkten Lebens
war in Fällen handhafter That nicht grundsätzlich ausgeschlossen.

Wie jeder aus dem Volke konnte auch der Richter und konnten

34 Cap. apud Ansegisum servata c. 5, I 160. Es handelt sich, um in der
Sprache einer jüngeren sächsischen Rechtsquelle zu sprechen, zwar um ein up-
holden, aber nicht um ein upholden in handhaftigher dat. Siehe Planck, Ge-
richtsverfahren I 767.
35 Lex Fris. III 8. 9. Siehe oben S. 408, Anm. 44.
36 Lex Rib. 79.
37 Jydske Lov II 88. Hat der Dieb den Wert einer halben Mark gestohlen
oder mehr, so mag ihn der Vogt ohne Urteil und Recht hängen und versündigt
sich nicht daran; denn seine eigene That hat ihn verurteilt.

§ 116. Das Verfahren um handhafte That.
Angeschuldigte, der ohne die gestohlene Sache angeblich als Dieb
von jemand gefangen wurde, sich durch Kampf- oder Kreuzordal oder
mit Eidhelfern reinigen 34. Eine ähnliche Sachlage setzt auch ein
das ostfriesische Recht betreffender Zusatz der Lex Frisionum voraus,
nach welchem der ‘deprehensus’ die That bestreiten, arglistige An-
schuldigung behaupten und sich durch Kesselfang befreien kann 35.
In allen Fällen, in welchen der Gefangene zur Reinigung gelangte,
muſste er selbstverständlicherweise der Bande entledigt worden sein,
in denen man ihn vor den Richter gebracht hatte. Führte er den
Beweis der Unschuld, so war die Bindung eine rechtswidrige und
verfiel deren Urheber in die entsprechende Buſse. Das ostfriesische
Recht gestattete dem sachfälligen Kläger, durch Kesselfang den Vor-
wurf der wissentlich falschen Anschuldigung zu entkräften.

Liegt handhafte That vor, ist der Überführungsbeweis gelungen
oder die Rechtmäſsigkeit der Bindung nicht bestritten worden, so geht
der Richter von Amtswegen vor und verhängt die Strafe, ohne daſs
ein wahrer Kläger da ist, der sie verlangt. Der Schuldige verfällt der
Todesstrafe auch um Verbrechen, die sonst nicht mit dem Leben,
sondern in anderer Weise, etwa durch Buſszahlung, gesühnt werden,
eine Besonderheit, die sich daraus erklärt, daſs die handhafte That
als solche friedlos machte und die Bestrafung des Thäters sich als
eine Vollstreckung der Friedlosigkeit darstellt. Der Richter mag die
Todesstrafe, indem er die Art der Hinrichtung bestimmt, von sich aus
ohne Urteil der Gerichtsgemeinde anordnen. Die Quellen sprechen
diesfalls nicht selten von einem condemnare, von einem iudicium des
Richters 36, Stellen, die nicht auf einen in Wahrheit selbsturteilenden
Richter gedeutet werden dürfen, da es sich im Grunde genommen
nicht um ein wahres Urteil, sondern nur um die Hinrichtung eines
Friedlosen, eines exlex handelt, der bereits durch die That sich selbst
das Urteil gesprochen hatte 37. Die Lösung des verwirkten Lebens
war in Fällen handhafter That nicht grundsätzlich ausgeschlossen.

Wie jeder aus dem Volke konnte auch der Richter und konnten

34 Cap. apud Ansegisum servata c. 5, I 160. Es handelt sich, um in der
Sprache einer jüngeren sächsischen Rechtsquelle zu sprechen, zwar um ein up-
holden, aber nicht um ein upholden in handhaftigher dat. Siehe Planck, Ge-
richtsverfahren I 767.
35 Lex Fris. III 8. 9. Siehe oben S. 408, Anm. 44.
36 Lex Rib. 79.
37 Jydske Lov II 88. Hat der Dieb den Wert einer halben Mark gestohlen
oder mehr, so mag ihn der Vogt ohne Urteil und Recht hängen und versündigt
sich nicht daran; denn seine eigene That hat ihn verurteilt.
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[487/0505] § 116. Das Verfahren um handhafte That. Angeschuldigte, der ohne die gestohlene Sache angeblich als Dieb von jemand gefangen wurde, sich durch Kampf- oder Kreuzordal oder mit Eidhelfern reinigen 34. Eine ähnliche Sachlage setzt auch ein das ostfriesische Recht betreffender Zusatz der Lex Frisionum voraus, nach welchem der ‘deprehensus’ die That bestreiten, arglistige An- schuldigung behaupten und sich durch Kesselfang befreien kann 35. In allen Fällen, in welchen der Gefangene zur Reinigung gelangte, muſste er selbstverständlicherweise der Bande entledigt worden sein, in denen man ihn vor den Richter gebracht hatte. Führte er den Beweis der Unschuld, so war die Bindung eine rechtswidrige und verfiel deren Urheber in die entsprechende Buſse. Das ostfriesische Recht gestattete dem sachfälligen Kläger, durch Kesselfang den Vor- wurf der wissentlich falschen Anschuldigung zu entkräften. Liegt handhafte That vor, ist der Überführungsbeweis gelungen oder die Rechtmäſsigkeit der Bindung nicht bestritten worden, so geht der Richter von Amtswegen vor und verhängt die Strafe, ohne daſs ein wahrer Kläger da ist, der sie verlangt. Der Schuldige verfällt der Todesstrafe auch um Verbrechen, die sonst nicht mit dem Leben, sondern in anderer Weise, etwa durch Buſszahlung, gesühnt werden, eine Besonderheit, die sich daraus erklärt, daſs die handhafte That als solche friedlos machte und die Bestrafung des Thäters sich als eine Vollstreckung der Friedlosigkeit darstellt. Der Richter mag die Todesstrafe, indem er die Art der Hinrichtung bestimmt, von sich aus ohne Urteil der Gerichtsgemeinde anordnen. Die Quellen sprechen diesfalls nicht selten von einem condemnare, von einem iudicium des Richters 36, Stellen, die nicht auf einen in Wahrheit selbsturteilenden Richter gedeutet werden dürfen, da es sich im Grunde genommen nicht um ein wahres Urteil, sondern nur um die Hinrichtung eines Friedlosen, eines exlex handelt, der bereits durch die That sich selbst das Urteil gesprochen hatte 37. Die Lösung des verwirkten Lebens war in Fällen handhafter That nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Wie jeder aus dem Volke konnte auch der Richter und konnten 34 Cap. apud Ansegisum servata c. 5, I 160. Es handelt sich, um in der Sprache einer jüngeren sächsischen Rechtsquelle zu sprechen, zwar um ein up- holden, aber nicht um ein upholden in handhaftigher dat. Siehe Planck, Ge- richtsverfahren I 767. 35 Lex Fris. III 8. 9. Siehe oben S. 408, Anm. 44. 36 Lex Rib. 79. 37 Jydske Lov II 88. Hat der Dieb den Wert einer halben Mark gestohlen oder mehr, so mag ihn der Vogt ohne Urteil und Recht hängen und versündigt sich nicht daran; denn seine eigene That hat ihn verurteilt.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 487. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/505>, abgerufen am 16.04.2024.