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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 127. Der Versuch und die Versuchsverbrechen.
sondern als Ungefährwerke behandelt wurden, so hob andererseits das
Recht aus der Masse der Versuchshandlungen bestimmte Typen heraus,
um sie unter Strafe zu stellen.

Für die Bestrafung des Versuchs fällt zunächst ins Gewicht, dass
bei einzelnen Verbrechen gewisse nächste Versuchshandlungen, solche,
die unsere ältere kriminalistische Theorie als conatus proximus oder
propinquus aufgefasst hätte, wenn sie handhaft wurden, gleich dem
vollendeten Verbrechen geahndet werden konnten. So durfte man den
Dieb töten, der sich unterhalb des Hauses durchzugraben versuchte
oder des Nachts in ein Haus einbrach 1. So verfiel bussloser
Tötung der Brandstifter, den man betraf, als er die Fackel in der
Hand hielt, die eben Dach oder Wand des Hauses leckte 2. In
beiden Fällen handelt es sich um gehinderten Versuch und hand-
hafte That.

Gewisse Handlungen, in denen der typische Thatbestand eines
Versuches zu äusserlich wahrnehmbarem Ausdrucke gelangte, wurden
als delicta sui generis, als in sich vollendete Verbrechen geringerer
Strafbarkeit geahndet. Man darf diese Missethaten Versuchsdelikte
oder Versuchsverbrechen nennen, weil ihnen im einzelnen Falle die
zum Versuch erforderliche Absicht zu Grunde liegen konnte und die
Rechtsordnung bei Formulierung und Ahndung des Deliktes mit dieser
Möglichkeit rechnete. Freilich war nicht jedes konkrete Versuchs-
delikt notwendig ein Deliktsversuch, da es mit feststehender Busse be-
straft wurde, auch wenn der Thäter gar nicht die Absicht hatte, über
den bewirkten Thatbestand hinauszugehen, ja selbst dann, wenn er ab-
sichtslos handelte. Das Versuchsdelikt trägt eben den typischen Zu-
schnitt des damaligen Strafrechts. Es bildet den historischen Durch-
bruchspunkt in der Geschichte des Versuchsbegriffes, der im Wege
fortschreitender Abstraktion aus den Versuchsverbrechen herausge-
arbeitet wurde. Diese Entwicklung, in der das salische und das
langobardische Recht den übrigen deutschen Stammesrechten voran-
eilten, lässt sich am frühesten und am deutlichsten bei den Versuchs-
handlungen des Todschlags wahrnehmen.

Ein dahin gehöriges Versuchsdelikt ist die Wassertauche, in jüngeren
fränkischen und friesischen Quellen wapeldrink 3, wapeldrank, wapulde-

1 Lex Sax. 32. Lex Fris. 5, 1. Decreta Tassil. Niuh. c. 3.
2 Lex Fris. 5, 1. Vgl. Grimm, RA S. 743.
3 Cout. du Franc de Bruges, Keure v. circa 1190, § 27, bei Gilliodts van Se-
veren II 10. Keure für Furnes v. J. 1240, c. 7, bei Warnkönig, Flandr. Staats-
und Rechtsgeschichte II 2, Anhang, S. 74.

§ 127. Der Versuch und die Versuchsverbrechen.
sondern als Ungefährwerke behandelt wurden, so hob andererseits das
Recht aus der Masse der Versuchshandlungen bestimmte Typen heraus,
um sie unter Strafe zu stellen.

Für die Bestrafung des Versuchs fällt zunächst ins Gewicht, daſs
bei einzelnen Verbrechen gewisse nächste Versuchshandlungen, solche,
die unsere ältere kriminalistische Theorie als conatus proximus oder
propinquus aufgefaſst hätte, wenn sie handhaft wurden, gleich dem
vollendeten Verbrechen geahndet werden konnten. So durfte man den
Dieb töten, der sich unterhalb des Hauses durchzugraben versuchte
oder des Nachts in ein Haus einbrach 1. So verfiel buſsloser
Tötung der Brandstifter, den man betraf, als er die Fackel in der
Hand hielt, die eben Dach oder Wand des Hauses leckte 2. In
beiden Fällen handelt es sich um gehinderten Versuch und hand-
hafte That.

Gewisse Handlungen, in denen der typische Thatbestand eines
Versuches zu äuſserlich wahrnehmbarem Ausdrucke gelangte, wurden
als delicta sui generis, als in sich vollendete Verbrechen geringerer
Strafbarkeit geahndet. Man darf diese Missethaten Versuchsdelikte
oder Versuchsverbrechen nennen, weil ihnen im einzelnen Falle die
zum Versuch erforderliche Absicht zu Grunde liegen konnte und die
Rechtsordnung bei Formulierung und Ahndung des Deliktes mit dieser
Möglichkeit rechnete. Freilich war nicht jedes konkrete Versuchs-
delikt notwendig ein Deliktsversuch, da es mit feststehender Buſse be-
straft wurde, auch wenn der Thäter gar nicht die Absicht hatte, über
den bewirkten Thatbestand hinauszugehen, ja selbst dann, wenn er ab-
sichtslos handelte. Das Versuchsdelikt trägt eben den typischen Zu-
schnitt des damaligen Strafrechts. Es bildet den historischen Durch-
bruchspunkt in der Geschichte des Versuchsbegriffes, der im Wege
fortschreitender Abstraktion aus den Versuchsverbrechen herausge-
arbeitet wurde. Diese Entwicklung, in der das salische und das
langobardische Recht den übrigen deutschen Stammesrechten voran-
eilten, läſst sich am frühesten und am deutlichsten bei den Versuchs-
handlungen des Todschlags wahrnehmen.

Ein dahin gehöriges Versuchsdelikt ist die Wassertauche, in jüngeren
fränkischen und friesischen Quellen wapeldrink 3, wapeldrank, wapuldê-

1 Lex Sax. 32. Lex Fris. 5, 1. Decreta Tassil. Niuh. c. 3.
2 Lex Fris. 5, 1. Vgl. Grimm, RA S. 743.
3 Cout. du Franc de Bruges, Keure v. circa 1190, § 27, bei Gilliodts van Se-
veren II 10. Keure für Furnes v. J. 1240, c. 7, bei Warnkönig, Flandr. Staats-
und Rechtsgeschichte II 2, Anhang, S. 74.
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[559/0577] § 127. Der Versuch und die Versuchsverbrechen. sondern als Ungefährwerke behandelt wurden, so hob andererseits das Recht aus der Masse der Versuchshandlungen bestimmte Typen heraus, um sie unter Strafe zu stellen. Für die Bestrafung des Versuchs fällt zunächst ins Gewicht, daſs bei einzelnen Verbrechen gewisse nächste Versuchshandlungen, solche, die unsere ältere kriminalistische Theorie als conatus proximus oder propinquus aufgefaſst hätte, wenn sie handhaft wurden, gleich dem vollendeten Verbrechen geahndet werden konnten. So durfte man den Dieb töten, der sich unterhalb des Hauses durchzugraben versuchte oder des Nachts in ein Haus einbrach 1. So verfiel buſsloser Tötung der Brandstifter, den man betraf, als er die Fackel in der Hand hielt, die eben Dach oder Wand des Hauses leckte 2. In beiden Fällen handelt es sich um gehinderten Versuch und hand- hafte That. Gewisse Handlungen, in denen der typische Thatbestand eines Versuches zu äuſserlich wahrnehmbarem Ausdrucke gelangte, wurden als delicta sui generis, als in sich vollendete Verbrechen geringerer Strafbarkeit geahndet. Man darf diese Missethaten Versuchsdelikte oder Versuchsverbrechen nennen, weil ihnen im einzelnen Falle die zum Versuch erforderliche Absicht zu Grunde liegen konnte und die Rechtsordnung bei Formulierung und Ahndung des Deliktes mit dieser Möglichkeit rechnete. Freilich war nicht jedes konkrete Versuchs- delikt notwendig ein Deliktsversuch, da es mit feststehender Buſse be- straft wurde, auch wenn der Thäter gar nicht die Absicht hatte, über den bewirkten Thatbestand hinauszugehen, ja selbst dann, wenn er ab- sichtslos handelte. Das Versuchsdelikt trägt eben den typischen Zu- schnitt des damaligen Strafrechts. Es bildet den historischen Durch- bruchspunkt in der Geschichte des Versuchsbegriffes, der im Wege fortschreitender Abstraktion aus den Versuchsverbrechen herausge- arbeitet wurde. Diese Entwicklung, in der das salische und das langobardische Recht den übrigen deutschen Stammesrechten voran- eilten, läſst sich am frühesten und am deutlichsten bei den Versuchs- handlungen des Todschlags wahrnehmen. Ein dahin gehöriges Versuchsdelikt ist die Wassertauche, in jüngeren fränkischen und friesischen Quellen wapeldrink 3, wapeldrank, wapuldê- 1 Lex Sax. 32. Lex Fris. 5, 1. Decreta Tassil. Niuh. c. 3. 2 Lex Fris. 5, 1. Vgl. Grimm, RA S. 743. 3 Cout. du Franc de Bruges, Keure v. circa 1190, § 27, bei Gilliodts van Se- veren II 10. Keure für Furnes v. J. 1240, c. 7, bei Warnkönig, Flandr. Staats- und Rechtsgeschichte II 2, Anhang, S. 74.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 559. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/577>, abgerufen am 29.03.2024.