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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 132. Die Acht, ihre Spielarten und Abspaltungen.
karolingischen Zeit sind es hauptsächlich volksrechtlich verpönte Ver-
brechen, wie Raub, Diebstahl, Frauenraub, Aufruhr, Verschwörung,
Eingriffe in Kirchengut, durch welche neben der compositio eine Harm-
schar als Zusatzstrafe verwirkt wird. Als solche hat sie die praktische
Bedeutung, dass sie den Reichen ebenso hart oder noch härter trifft,
als den Armen, so dass sie die in der Natur des Busssystems liegende
strafrechtliche Privilegierung des Reichtums bis zu einem gewissen
Grade auszugleichen vermag.

Quellen der nachfränkischen Zeit kennen eine sogenannte Recht-
losigkeit, die als Folge der Verurteilung zu Leibes- oder Lebensstrafen
eintritt. Ihre Wirkungen sind der Mangel der normalen Busse, Eides-
unfähigkeit und Unfähigkeit zu Ämtern und Handlungen, welche volle
Unbescholtenheit der Ehre voraussetzen. So dürftig die fränkischen
Rechtsdenkmäler in diesem Punkte sind, bieten sie uns doch wenigstens
einzelne Spuren jener späteren Rechtlosigkeit47. Kapitularien Karls
des Grossen v. J. 80948 regeln die rechtliche Stellung derjenigen, die
zum Tode verurteilt das Leben gewonnen haben, und suchen, wie es
scheint, die Strenge des Volksrechts zu ihren Gunsten abzuschwächen.
Wegen Verletzungen, die er nach Ledigung der Todesstrafe erlitten,
soll ein solcher secundum aequitatis ordinem befugt sein, eine Klage
zu erheben49. Neues Vermögen soll er zu erwerben fähig sein; doch
bleibt dasjenige, das er früher besessen hatte, verwirkt. Er darf nicht
Zeuge, Urteilfinder oder Richter sein. Er entbehrt die Eidesfähigkeit
und muss statt des Eides ein Gottesurteil wählen50. Willfähriger
war Karl der Grosse gegenüber der Härte des sächsischen Volks-
rechtes. Der Sachse, der das Leben verwirkt hat, aber vom Könige
zum Exil begnadigt worden ist, soll in der Heimat fürderhin rechtlich

armiscara, id est sella ad suum dorsum ante nos a suis senioribus dirigatur et us-
que ad nostram indulgentiam sustineat.
47 Die sogenannte Rechtlosigkeit oder Unechtheit der unehelichen Kinder,
der Kämpen und Spielleute ist ein Erzeugnis der nachfränkischen Rechtsentwicklung.
Doch bestimmt schon Cap. I 334, c. 8, dass in den Königspfalzen viles personae et
infames, histriones scilicet, nugatores, manzeres (de scorta nati), concubinarii, neque
ex turpium feminarum commixtione progeniti aut servi aut criminosi nicht ad accu-
sandum et iudicandum et testimonium faciendum verwendet werden sollen.
48 Cap. Aquisgr. c. 1, I 148. Cap. miss. Aquisgr. primum c. 28, I 151.
49 Über den Fall der Verweigerung der Antwort siehe oben S 347, Anm. 32.
50 Cap. miss. Aquisgr. primum v. J. 809, c. 28, I 151: neque iudex fiat neque
scabinius neque testis, neque ad sacramentum recipiatur; sed unde alii iurare debent,
ipse semper ad iudicium Dei examinandus accedat. Anders Cap. Aquisgr. v. J.
809(?) c. 1, I 148, nach welchem der Gegner nur das Recht haben soll, den Eid
stets zu verlegen.

§ 132. Die Acht, ihre Spielarten und Abspaltungen.
karolingischen Zeit sind es hauptsächlich volksrechtlich verpönte Ver-
brechen, wie Raub, Diebstahl, Frauenraub, Aufruhr, Verschwörung,
Eingriffe in Kirchengut, durch welche neben der compositio eine Harm-
schar als Zusatzstrafe verwirkt wird. Als solche hat sie die praktische
Bedeutung, daſs sie den Reichen ebenso hart oder noch härter trifft,
als den Armen, so daſs sie die in der Natur des Buſssystems liegende
strafrechtliche Privilegierung des Reichtums bis zu einem gewissen
Grade auszugleichen vermag.

Quellen der nachfränkischen Zeit kennen eine sogenannte Recht-
losigkeit, die als Folge der Verurteilung zu Leibes- oder Lebensstrafen
eintritt. Ihre Wirkungen sind der Mangel der normalen Buſse, Eides-
unfähigkeit und Unfähigkeit zu Ämtern und Handlungen, welche volle
Unbescholtenheit der Ehre voraussetzen. So dürftig die fränkischen
Rechtsdenkmäler in diesem Punkte sind, bieten sie uns doch wenigstens
einzelne Spuren jener späteren Rechtlosigkeit47. Kapitularien Karls
des Groſsen v. J. 80948 regeln die rechtliche Stellung derjenigen, die
zum Tode verurteilt das Leben gewonnen haben, und suchen, wie es
scheint, die Strenge des Volksrechts zu ihren Gunsten abzuschwächen.
Wegen Verletzungen, die er nach Ledigung der Todesstrafe erlitten,
soll ein solcher secundum aequitatis ordinem befugt sein, eine Klage
zu erheben49. Neues Vermögen soll er zu erwerben fähig sein; doch
bleibt dasjenige, das er früher besessen hatte, verwirkt. Er darf nicht
Zeuge, Urteilfinder oder Richter sein. Er entbehrt die Eidesfähigkeit
und muſs statt des Eides ein Gottesurteil wählen50. Willfähriger
war Karl der Groſse gegenüber der Härte des sächsischen Volks-
rechtes. Der Sachse, der das Leben verwirkt hat, aber vom Könige
zum Exil begnadigt worden ist, soll in der Heimat fürderhin rechtlich

armiscara, id est sella ad suum dorsum ante nos a suis senioribus dirigatur et us-
que ad nostram indulgentiam sustineat.
47 Die sogenannte Rechtlosigkeit oder Unechtheit der unehelichen Kinder,
der Kämpen und Spielleute ist ein Erzeugnis der nachfränkischen Rechtsentwicklung.
Doch bestimmt schon Cap. I 334, c. 8, daſs in den Königspfalzen viles personae et
infames, histriones scilicet, nugatores, manzeres (de scorta nati), concubinarii, neque
ex turpium feminarum commixtione progeniti aut servi aut criminosi nicht ad accu-
sandum et iudicandum et testimonium faciendum verwendet werden sollen.
48 Cap. Aquisgr. c. 1, I 148. Cap. miss. Aquisgr. primum c. 28, I 151.
49 Über den Fall der Verweigerung der Antwort siehe oben S 347, Anm. 32.
50 Cap. miss. Aquisgr. primum v. J. 809, c. 28, I 151: neque iudex fiat neque
scabinius neque testis, neque ad sacramentum recipiatur; sed unde alii iurare debent,
ipse semper ad iudicium Dei examinandus accedat. Anders Cap. Aquisgr. v. J.
809(?) c. 1, I 148, nach welchem der Gegner nur das Recht haben soll, den Eid
stets zu verlegen.
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[597/0615] § 132. Die Acht, ihre Spielarten und Abspaltungen. karolingischen Zeit sind es hauptsächlich volksrechtlich verpönte Ver- brechen, wie Raub, Diebstahl, Frauenraub, Aufruhr, Verschwörung, Eingriffe in Kirchengut, durch welche neben der compositio eine Harm- schar als Zusatzstrafe verwirkt wird. Als solche hat sie die praktische Bedeutung, daſs sie den Reichen ebenso hart oder noch härter trifft, als den Armen, so daſs sie die in der Natur des Buſssystems liegende strafrechtliche Privilegierung des Reichtums bis zu einem gewissen Grade auszugleichen vermag. Quellen der nachfränkischen Zeit kennen eine sogenannte Recht- losigkeit, die als Folge der Verurteilung zu Leibes- oder Lebensstrafen eintritt. Ihre Wirkungen sind der Mangel der normalen Buſse, Eides- unfähigkeit und Unfähigkeit zu Ämtern und Handlungen, welche volle Unbescholtenheit der Ehre voraussetzen. So dürftig die fränkischen Rechtsdenkmäler in diesem Punkte sind, bieten sie uns doch wenigstens einzelne Spuren jener späteren Rechtlosigkeit 47. Kapitularien Karls des Groſsen v. J. 809 48 regeln die rechtliche Stellung derjenigen, die zum Tode verurteilt das Leben gewonnen haben, und suchen, wie es scheint, die Strenge des Volksrechts zu ihren Gunsten abzuschwächen. Wegen Verletzungen, die er nach Ledigung der Todesstrafe erlitten, soll ein solcher secundum aequitatis ordinem befugt sein, eine Klage zu erheben 49. Neues Vermögen soll er zu erwerben fähig sein; doch bleibt dasjenige, das er früher besessen hatte, verwirkt. Er darf nicht Zeuge, Urteilfinder oder Richter sein. Er entbehrt die Eidesfähigkeit und muſs statt des Eides ein Gottesurteil wählen 50. Willfähriger war Karl der Groſse gegenüber der Härte des sächsischen Volks- rechtes. Der Sachse, der das Leben verwirkt hat, aber vom Könige zum Exil begnadigt worden ist, soll in der Heimat fürderhin rechtlich 46 47 Die sogenannte Rechtlosigkeit oder Unechtheit der unehelichen Kinder, der Kämpen und Spielleute ist ein Erzeugnis der nachfränkischen Rechtsentwicklung. Doch bestimmt schon Cap. I 334, c. 8, daſs in den Königspfalzen viles personae et infames, histriones scilicet, nugatores, manzeres (de scorta nati), concubinarii, neque ex turpium feminarum commixtione progeniti aut servi aut criminosi nicht ad accu- sandum et iudicandum et testimonium faciendum verwendet werden sollen. 48 Cap. Aquisgr. c. 1, I 148. Cap. miss. Aquisgr. primum c. 28, I 151. 49 Über den Fall der Verweigerung der Antwort siehe oben S 347, Anm. 32. 50 Cap. miss. Aquisgr. primum v. J. 809, c. 28, I 151: neque iudex fiat neque scabinius neque testis, neque ad sacramentum recipiatur; sed unde alii iurare debent, ipse semper ad iudicium Dei examinandus accedat. Anders Cap. Aquisgr. v. J. 809(?) c. 1, I 148, nach welchem der Gegner nur das Recht haben soll, den Eid stets zu verlegen. 46 armiscara, id est sella ad suum dorsum ante nos a suis senioribus dirigatur et us- que ad nostram indulgentiam sustineat.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 597. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/615>, abgerufen am 28.03.2024.