Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

Bild:
<< vorherige Seite
kamen, und von manchen Dingen zu sprechen anfingen, hieß
sie mich aus dem Zimmer gehen; fragte ich, was die Leute
gewollt hatten, so sagte sie: ich solle mich schämen; gab sie
mir ein Buch zu lesen, so mußte ich fast immer einige
Seiten überschlagen. Aber die Bibel las ich nach Belieben,
da war Alles heilig; aber es war etwas darin, was ich nicht
begriff. Ich mochte auch Niemand fragen, ich brütete über
mir selbst. Da kam der Frühling, es ging überall etwas
um mich vor, woran ich keinen Theil hatte. Ich gerieth in
eine eigene Atmosphäre, sie erstickte mich fast. Ich betrachtete
meine Glieder, es war mir manchmal, als wäre ich doppelt
und verschmölze dann wieder in Eins. Ein junger Mensch
kam zu der Zeit ins Haus; er war hübsch und sprach oft
tolles Zeug, ich wußte nicht recht, was er wollte, aber ich
mußte lachen. Meine Mutter hieß ihn öfters kommen, das
war uns Beiden recht. Endlich sahen wir nicht ein, warum
wir nicht eben so gut zwischen zwei Betttüchern bei einander
liegen, als auf zwei Stühlen bei einander sitzen dürften.
Ich fand dabei mehr Vergnügen, als bei seiner Unterhaltung
und sah nicht ab, warum man mir das Geringere gewähren
und das Größere entziehen wollte. Wir thaten's heimlich,
und das ging so fort. Aber ich wurde wie ein Meer, das
Alles verschlang und sich tiefer und tiefer wühlte. Es war
für mich nur Ein Gegensatz da, alle Männer verschmolzen
in Einen Leib. Meine Natur war einmal so, wer kann
da drüber hinaus? Endlich merkt' er's. Er kam eines
Morgens und küßte mich, als wollte er mich ersticken; seine
Arme schnürten sich um meinen Hals, ich war in unsäglicher
Angst. Da ließ er mich los, und lachte und sagte: er hätte
fast einen dummen Streich gemacht, ich solle mein Kleid nur
kamen, und von manchen Dingen zu ſprechen anfingen, hieß
ſie mich aus dem Zimmer gehen; fragte ich, was die Leute
gewollt hatten, ſo ſagte ſie: ich ſolle mich ſchämen; gab ſie
mir ein Buch zu leſen, ſo mußte ich faſt immer einige
Seiten überſchlagen. Aber die Bibel las ich nach Belieben,
da war Alles heilig; aber es war etwas darin, was ich nicht
begriff. Ich mochte auch Niemand fragen, ich brütete über
mir ſelbſt. Da kam der Frühling, es ging überall etwas
um mich vor, woran ich keinen Theil hatte. Ich gerieth in
eine eigene Atmoſphäre, ſie erſtickte mich faſt. Ich betrachtete
meine Glieder, es war mir manchmal, als wäre ich doppelt
und verſchmölze dann wieder in Eins. Ein junger Menſch
kam zu der Zeit ins Haus; er war hübſch und ſprach oft
tolles Zeug, ich wußte nicht recht, was er wollte, aber ich
mußte lachen. Meine Mutter hieß ihn öfters kommen, das
war uns Beiden recht. Endlich ſahen wir nicht ein, warum
wir nicht eben ſo gut zwiſchen zwei Betttüchern bei einander
liegen, als auf zwei Stühlen bei einander ſitzen dürften.
Ich fand dabei mehr Vergnügen, als bei ſeiner Unterhaltung
und ſah nicht ab, warum man mir das Geringere gewähren
und das Größere entziehen wollte. Wir thaten's heimlich,
und das ging ſo fort. Aber ich wurde wie ein Meer, das
Alles verſchlang und ſich tiefer und tiefer wühlte. Es war
für mich nur Ein Gegenſatz da, alle Männer verſchmolzen
in Einen Leib. Meine Natur war einmal ſo, wer kann
da drüber hinaus? Endlich merkt' er's. Er kam eines
Morgens und küßte mich, als wollte er mich erſticken; ſeine
Arme ſchnürten ſich um meinen Hals, ich war in unſäglicher
Angſt. Da ließ er mich los, und lachte und ſagte: er hätte
faſt einen dummen Streich gemacht, ich ſolle mein Kleid nur
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div type="act" n="3">
            <div type="scene" n="4">
              <sp who="#MARION">
                <p><pb facs="#f0219" n="23"/>
kamen, und von manchen Dingen zu &#x017F;prechen anfingen, hieß<lb/>
&#x017F;ie mich aus dem Zimmer gehen; fragte ich, was die Leute<lb/>
gewollt hatten, &#x017F;o &#x017F;agte &#x017F;ie: ich &#x017F;olle mich &#x017F;chämen; gab &#x017F;ie<lb/>
mir ein Buch zu le&#x017F;en, &#x017F;o mußte ich fa&#x017F;t immer einige<lb/>
Seiten über&#x017F;chlagen. Aber die Bibel las ich nach Belieben,<lb/>
da war Alles heilig; aber es war etwas darin, was ich nicht<lb/>
begriff. Ich mochte auch Niemand fragen, ich brütete über<lb/>
mir &#x017F;elb&#x017F;t. Da kam der Frühling, es ging überall etwas<lb/>
um mich vor, woran ich keinen Theil hatte. Ich gerieth in<lb/>
eine eigene Atmo&#x017F;phäre, &#x017F;ie er&#x017F;tickte mich fa&#x017F;t. Ich betrachtete<lb/>
meine Glieder, es war mir manchmal, als wäre ich doppelt<lb/>
und ver&#x017F;chmölze dann wieder in Eins. Ein junger Men&#x017F;ch<lb/>
kam zu der Zeit ins Haus; er war hüb&#x017F;ch und &#x017F;prach oft<lb/>
tolles Zeug, ich wußte nicht recht, was er wollte, aber ich<lb/>
mußte lachen. Meine Mutter hieß ihn öfters kommen, das<lb/>
war uns Beiden recht. Endlich &#x017F;ahen wir nicht ein, warum<lb/>
wir nicht eben &#x017F;o gut zwi&#x017F;chen zwei Betttüchern bei einander<lb/>
liegen, als auf zwei Stühlen bei einander &#x017F;itzen dürften.<lb/>
Ich fand dabei mehr Vergnügen, als bei &#x017F;einer Unterhaltung<lb/>
und &#x017F;ah nicht ab, warum man mir das Geringere gewähren<lb/>
und das Größere entziehen wollte. Wir thaten's heimlich,<lb/>
und das ging &#x017F;o fort. Aber ich wurde wie ein Meer, das<lb/>
Alles ver&#x017F;chlang und &#x017F;ich tiefer und tiefer wühlte. Es war<lb/>
für mich nur Ein Gegen&#x017F;atz da, alle Männer ver&#x017F;chmolzen<lb/>
in Einen Leib. Meine Natur war einmal &#x017F;o, wer kann<lb/>
da drüber hinaus? Endlich merkt' er's. Er kam eines<lb/>
Morgens und küßte mich, als wollte er mich er&#x017F;ticken; &#x017F;eine<lb/>
Arme &#x017F;chnürten &#x017F;ich um meinen Hals, ich war in un&#x017F;äglicher<lb/>
Ang&#x017F;t. Da ließ er mich los, und lachte und &#x017F;agte: er hätte<lb/>
fa&#x017F;t einen dummen Streich gemacht, ich &#x017F;olle mein Kleid nur<lb/></p>
              </sp>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[23/0219] kamen, und von manchen Dingen zu ſprechen anfingen, hieß ſie mich aus dem Zimmer gehen; fragte ich, was die Leute gewollt hatten, ſo ſagte ſie: ich ſolle mich ſchämen; gab ſie mir ein Buch zu leſen, ſo mußte ich faſt immer einige Seiten überſchlagen. Aber die Bibel las ich nach Belieben, da war Alles heilig; aber es war etwas darin, was ich nicht begriff. Ich mochte auch Niemand fragen, ich brütete über mir ſelbſt. Da kam der Frühling, es ging überall etwas um mich vor, woran ich keinen Theil hatte. Ich gerieth in eine eigene Atmoſphäre, ſie erſtickte mich faſt. Ich betrachtete meine Glieder, es war mir manchmal, als wäre ich doppelt und verſchmölze dann wieder in Eins. Ein junger Menſch kam zu der Zeit ins Haus; er war hübſch und ſprach oft tolles Zeug, ich wußte nicht recht, was er wollte, aber ich mußte lachen. Meine Mutter hieß ihn öfters kommen, das war uns Beiden recht. Endlich ſahen wir nicht ein, warum wir nicht eben ſo gut zwiſchen zwei Betttüchern bei einander liegen, als auf zwei Stühlen bei einander ſitzen dürften. Ich fand dabei mehr Vergnügen, als bei ſeiner Unterhaltung und ſah nicht ab, warum man mir das Geringere gewähren und das Größere entziehen wollte. Wir thaten's heimlich, und das ging ſo fort. Aber ich wurde wie ein Meer, das Alles verſchlang und ſich tiefer und tiefer wühlte. Es war für mich nur Ein Gegenſatz da, alle Männer verſchmolzen in Einen Leib. Meine Natur war einmal ſo, wer kann da drüber hinaus? Endlich merkt' er's. Er kam eines Morgens und küßte mich, als wollte er mich erſticken; ſeine Arme ſchnürten ſich um meinen Hals, ich war in unſäglicher Angſt. Da ließ er mich los, und lachte und ſagte: er hätte faſt einen dummen Streich gemacht, ich ſolle mein Kleid nur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/219
Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/219>, abgerufen am 23.04.2024.