Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht" vorgetragen, und mit dem dürftigen Namensschema,
welches als "Naturgeschichte" dictirt wurde, könnte sich die
moderne Volksschule unmöglich begnügen. Die mathematische
Geographie wurde gar nicht vorgetragen, die politische in
einem kurzen Auszug den Schülern dictirt. Latein und
Griechisch hingegen ward in breitester Ausdehnung mit Ein-
beziehung aller Hilfswissenschaften betrieben. Mag man auch
das schöne Wort Jean Paul's: "die Welt der Alten sei der
stille, heilige und dennoch heitere Tempel, an dessen ewigen,
erhabenen, lächelnden Marmorbildern vorüber die Jugend
ihren Weg nimmt auf den Markt des alltäglichen Lebens"
-- noch so willig unterschreiben, so wird man sich doch des
Staunens nicht erwehren können, wenn man aus den Schul-
heften jener Zeit ersieht, wie weit vernünftige Männer ein
an sich richtiges Prinzip zu übertreiben und hierdurch sich
selbst ad absurdum zu führen vermochten! Es ist begreif-
lich, daß die Grammatik gründlich gelehrt, begreiflich, daß die
Lectüre der Klassiker in größtmöglichem Ausmaß betrieben
wurde, aber unbegreiflich bleibt die kindische, überaus zeit-
raubende Spielerei mit lateinischen und griechischen Versen,
unbegreiflich, daß Hilfswissenschaften, wie z. B. antike Me-
trik, Archäologie, Münzkunde zusammen beiläufig in dem-
selben Umfang betrieben wurden, wie -- die Muttersprache!
Jedoch nicht blos der Inhalt, auch die Methode des Unter-
richtes muß Kopfschütteln erwecken. Im Allgemeinen galt
der Grundsatz: "Doch Euch des Schreibens ja befleißt" u. s. w.,
wie es im "Faust" steht. Geschichte und Geographie, Ar-
chäologie und Literarhistorie, Mathematik und Physik, Na-
turgeschichte und Religion -- Alles wurde dictirt und zuerst
in der Schule flüchtig, hierauf zu Hause kalligraphisch schön

b *

nicht" vorgetragen, und mit dem dürftigen Namensſchema,
welches als "Naturgeſchichte" dictirt wurde, könnte ſich die
moderne Volksſchule unmöglich begnügen. Die mathematiſche
Geographie wurde gar nicht vorgetragen, die politiſche in
einem kurzen Auszug den Schülern dictirt. Latein und
Griechiſch hingegen ward in breiteſter Ausdehnung mit Ein-
beziehung aller Hilfswiſſenſchaften betrieben. Mag man auch
das ſchöne Wort Jean Paul's: "die Welt der Alten ſei der
ſtille, heilige und dennoch heitere Tempel, an deſſen ewigen,
erhabenen, lächelnden Marmorbildern vorüber die Jugend
ihren Weg nimmt auf den Markt des alltäglichen Lebens"
— noch ſo willig unterſchreiben, ſo wird man ſich doch des
Staunens nicht erwehren können, wenn man aus den Schul-
heften jener Zeit erſieht, wie weit vernünftige Männer ein
an ſich richtiges Prinzip zu übertreiben und hierdurch ſich
ſelbſt ad absurdum zu führen vermochten! Es iſt begreif-
lich, daß die Grammatik gründlich gelehrt, begreiflich, daß die
Lectüre der Klaſſiker in größtmöglichem Ausmaß betrieben
wurde, aber unbegreiflich bleibt die kindiſche, überaus zeit-
raubende Spielerei mit lateiniſchen und griechiſchen Verſen,
unbegreiflich, daß Hilfswiſſenſchaften, wie z. B. antike Me-
trik, Archäologie, Münzkunde zuſammen beiläufig in dem-
ſelben Umfang betrieben wurden, wie — die Mutterſprache!
Jedoch nicht blos der Inhalt, auch die Methode des Unter-
richtes muß Kopfſchütteln erwecken. Im Allgemeinen galt
der Grundſatz: "Doch Euch des Schreibens ja befleißt" u. ſ. w.,
wie es im "Fauſt" ſteht. Geſchichte und Geographie, Ar-
chäologie und Literarhiſtorie, Mathematik und Phyſik, Na-
turgeſchichte und Religion — Alles wurde dictirt und zuerſt
in der Schule flüchtig, hierauf zu Hauſe kalligraphiſch ſchön

b *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0035" n="XIX"/>
nicht" vorgetragen, und mit dem dürftigen Namens&#x017F;chema,<lb/>
welches als "Naturge&#x017F;chichte" dictirt wurde, könnte &#x017F;ich die<lb/>
moderne Volks&#x017F;chule unmöglich begnügen. Die mathemati&#x017F;che<lb/>
Geographie wurde gar nicht vorgetragen, die politi&#x017F;che in<lb/>
einem kurzen Auszug den Schülern dictirt. Latein und<lb/>
Griechi&#x017F;ch hingegen ward in breite&#x017F;ter Ausdehnung mit Ein-<lb/>
beziehung aller Hilfswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften betrieben. Mag man auch<lb/>
das &#x017F;chöne Wort Jean Paul's: "die Welt der Alten &#x017F;ei der<lb/>
&#x017F;tille, heilige und dennoch heitere Tempel, an de&#x017F;&#x017F;en ewigen,<lb/>
erhabenen, lächelnden Marmorbildern vorüber die Jugend<lb/>
ihren Weg nimmt auf den Markt des alltäglichen Lebens"<lb/>
&#x2014; noch &#x017F;o willig unter&#x017F;chreiben, &#x017F;o wird man &#x017F;ich doch des<lb/>
Staunens nicht erwehren können, wenn man aus den Schul-<lb/>
heften jener Zeit er&#x017F;ieht, wie weit vernünftige Männer ein<lb/>
an &#x017F;ich richtiges Prinzip zu übertreiben und hierdurch &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#aq">ad absurdum</hi> zu führen vermochten! Es i&#x017F;t begreif-<lb/>
lich, daß die Grammatik gründlich gelehrt, begreiflich, daß die<lb/>
Lectüre der Kla&#x017F;&#x017F;iker in größtmöglichem Ausmaß betrieben<lb/>
wurde, aber unbegreiflich bleibt die kindi&#x017F;che, überaus zeit-<lb/>
raubende Spielerei mit lateini&#x017F;chen und griechi&#x017F;chen Ver&#x017F;en,<lb/>
unbegreiflich, daß Hilfswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, wie z. B. antike Me-<lb/>
trik, Archäologie, Münzkunde zu&#x017F;ammen beiläufig in dem-<lb/>
&#x017F;elben Umfang betrieben wurden, wie &#x2014; die Mutter&#x017F;prache!<lb/>
Jedoch nicht blos der Inhalt, auch die Methode des Unter-<lb/>
richtes muß Kopf&#x017F;chütteln erwecken. Im Allgemeinen galt<lb/>
der Grund&#x017F;atz: "Doch Euch des Schreibens ja befleißt" u. &#x017F;. w.,<lb/>
wie es im "Fau&#x017F;t" &#x017F;teht. Ge&#x017F;chichte und Geographie, Ar-<lb/>
chäologie und Literarhi&#x017F;torie, Mathematik und Phy&#x017F;ik, Na-<lb/>
turge&#x017F;chichte und Religion &#x2014; Alles wurde dictirt und zuer&#x017F;t<lb/>
in der Schule flüchtig, hierauf zu Hau&#x017F;e kalligraphi&#x017F;ch &#x017F;chön<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">b</hi> *</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[XIX/0035] nicht" vorgetragen, und mit dem dürftigen Namensſchema, welches als "Naturgeſchichte" dictirt wurde, könnte ſich die moderne Volksſchule unmöglich begnügen. Die mathematiſche Geographie wurde gar nicht vorgetragen, die politiſche in einem kurzen Auszug den Schülern dictirt. Latein und Griechiſch hingegen ward in breiteſter Ausdehnung mit Ein- beziehung aller Hilfswiſſenſchaften betrieben. Mag man auch das ſchöne Wort Jean Paul's: "die Welt der Alten ſei der ſtille, heilige und dennoch heitere Tempel, an deſſen ewigen, erhabenen, lächelnden Marmorbildern vorüber die Jugend ihren Weg nimmt auf den Markt des alltäglichen Lebens" — noch ſo willig unterſchreiben, ſo wird man ſich doch des Staunens nicht erwehren können, wenn man aus den Schul- heften jener Zeit erſieht, wie weit vernünftige Männer ein an ſich richtiges Prinzip zu übertreiben und hierdurch ſich ſelbſt ad absurdum zu führen vermochten! Es iſt begreif- lich, daß die Grammatik gründlich gelehrt, begreiflich, daß die Lectüre der Klaſſiker in größtmöglichem Ausmaß betrieben wurde, aber unbegreiflich bleibt die kindiſche, überaus zeit- raubende Spielerei mit lateiniſchen und griechiſchen Verſen, unbegreiflich, daß Hilfswiſſenſchaften, wie z. B. antike Me- trik, Archäologie, Münzkunde zuſammen beiläufig in dem- ſelben Umfang betrieben wurden, wie — die Mutterſprache! Jedoch nicht blos der Inhalt, auch die Methode des Unter- richtes muß Kopfſchütteln erwecken. Im Allgemeinen galt der Grundſatz: "Doch Euch des Schreibens ja befleißt" u. ſ. w., wie es im "Fauſt" ſteht. Geſchichte und Geographie, Ar- chäologie und Literarhiſtorie, Mathematik und Phyſik, Na- turgeſchichte und Religion — Alles wurde dictirt und zuerſt in der Schule flüchtig, hierauf zu Hauſe kalligraphiſch ſchön b *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/35
Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. XIX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/35>, abgerufen am 19.04.2024.