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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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durch ihren Tod den Himmel verdient; jedenfalls hätten sie
hierdurch ein Stück Himmel auf die Erde gebracht, indem
ihre Nachkommen von den verdummenden Fesseln des Katho-
licismus frei geblieben ... Wer so als Schüler schreibt,
wird wohl noch viel radicaler denken!

Auch nach einer dritten Richtung hin vollzog sich in
ihm eine gründliche Wandlung: was seine ästhetischen Ueber-
zeugungen betrifft. Wir wissen, daß er als Knabe Dich-
tungen nicht gern gelesen, jene von Matthisen und Schiller
ausgenommen. Nun aber las er nicht blos sehr viel, son-
dern auch mit feinem Verständniß, und sein Geschmack er-
hielt eine scharfe, von der früheren grundverschiedene Prä-
gung. Einer der beiden oben citirten Freunde berichtet hier-
über: "Wir vertieften uns gemeinsam in die Lectüre großer
Dichterwerke. Büchner liebte vorzüglich Shakespeare, Homer,
Goethe. Volkspoesie zog ihn auf das Mächtigste an, wir lasen
Alles, was wir auftreiben konnten. Hingegen hatte Büchner
gegen das Rhetorische in Schillers Schriften viel einzuwenden.
Dem einfach Menschlichen wendete er sich mit Vorliebe zu,
hatte übrigens für die Antike und für das Seelenbezwingende
in der Dichtung neuerer Zeiten gleiches Verständniß. Der
Bereich des Schönliterarischen, das er las, erstreckte sich sehr
weit, auch Calderon war dabei, ferner Jean Paul und die
Romantiker. Sein Geschmack war elastisch. Während er
Herders "Stimmen der Völker" und "Des Knaben Wunder-
horn" verschlang, schätzte er auch Werke der französischen
Literatur. Für Unterhaltungslectüre hatte er keinen Sinn;
er mußte beim Lesen zu denken haben. Für echte Poesie
war seine Liebe groß, sein Verständniß fein und sicher."
Wie die Wandlung auch nach dieser Hinsicht eine natur-

durch ihren Tod den Himmel verdient; jedenfalls hätten ſie
hierdurch ein Stück Himmel auf die Erde gebracht, indem
ihre Nachkommen von den verdummenden Feſſeln des Katho-
licismus frei geblieben ... Wer ſo als Schüler ſchreibt,
wird wohl noch viel radicaler denken!

Auch nach einer dritten Richtung hin vollzog ſich in
ihm eine gründliche Wandlung: was ſeine äſthetiſchen Ueber-
zeugungen betrifft. Wir wiſſen, daß er als Knabe Dich-
tungen nicht gern geleſen, jene von Matthiſen und Schiller
ausgenommen. Nun aber las er nicht blos ſehr viel, ſon-
dern auch mit feinem Verſtändniß, und ſein Geſchmack er-
hielt eine ſcharfe, von der früheren grundverſchiedene Prä-
gung. Einer der beiden oben citirten Freunde berichtet hier-
über: "Wir vertieften uns gemeinſam in die Lectüre großer
Dichterwerke. Büchner liebte vorzüglich Shakespeare, Homer,
Goethe. Volkspoeſie zog ihn auf das Mächtigſte an, wir laſen
Alles, was wir auftreiben konnten. Hingegen hatte Büchner
gegen das Rhetoriſche in Schillers Schriften viel einzuwenden.
Dem einfach Menſchlichen wendete er ſich mit Vorliebe zu,
hatte übrigens für die Antike und für das Seelenbezwingende
in der Dichtung neuerer Zeiten gleiches Verſtändniß. Der
Bereich des Schönliterariſchen, das er las, erſtreckte ſich ſehr
weit, auch Calderon war dabei, ferner Jean Paul und die
Romantiker. Sein Geſchmack war elaſtiſch. Während er
Herders "Stimmen der Völker" und "Des Knaben Wunder-
horn" verſchlang, ſchätzte er auch Werke der franzöſiſchen
Literatur. Für Unterhaltungslectüre hatte er keinen Sinn;
er mußte beim Leſen zu denken haben. Für echte Poeſie
war ſeine Liebe groß, ſein Verſtändniß fein und ſicher."
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[XXXII/0048] durch ihren Tod den Himmel verdient; jedenfalls hätten ſie hierdurch ein Stück Himmel auf die Erde gebracht, indem ihre Nachkommen von den verdummenden Feſſeln des Katho- licismus frei geblieben ... Wer ſo als Schüler ſchreibt, wird wohl noch viel radicaler denken! Auch nach einer dritten Richtung hin vollzog ſich in ihm eine gründliche Wandlung: was ſeine äſthetiſchen Ueber- zeugungen betrifft. Wir wiſſen, daß er als Knabe Dich- tungen nicht gern geleſen, jene von Matthiſen und Schiller ausgenommen. Nun aber las er nicht blos ſehr viel, ſon- dern auch mit feinem Verſtändniß, und ſein Geſchmack er- hielt eine ſcharfe, von der früheren grundverſchiedene Prä- gung. Einer der beiden oben citirten Freunde berichtet hier- über: "Wir vertieften uns gemeinſam in die Lectüre großer Dichterwerke. Büchner liebte vorzüglich Shakespeare, Homer, Goethe. Volkspoeſie zog ihn auf das Mächtigſte an, wir laſen Alles, was wir auftreiben konnten. Hingegen hatte Büchner gegen das Rhetoriſche in Schillers Schriften viel einzuwenden. Dem einfach Menſchlichen wendete er ſich mit Vorliebe zu, hatte übrigens für die Antike und für das Seelenbezwingende in der Dichtung neuerer Zeiten gleiches Verſtändniß. Der Bereich des Schönliterariſchen, das er las, erſtreckte ſich ſehr weit, auch Calderon war dabei, ferner Jean Paul und die Romantiker. Sein Geſchmack war elaſtiſch. Während er Herders "Stimmen der Völker" und "Des Knaben Wunder- horn" verſchlang, ſchätzte er auch Werke der franzöſiſchen Literatur. Für Unterhaltungslectüre hatte er keinen Sinn; er mußte beim Leſen zu denken haben. Für echte Poeſie war ſeine Liebe groß, ſein Verſtändniß fein und ſicher." Wie die Wandlung auch nach dieſer Hinſicht eine natur-

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. XXXII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/48>, abgerufen am 28.03.2024.